Katalonien – ein europäisches Problem, das eine europäische Lösung verlangt.

Ein Vorschlag von Yanis Varoufakis

Die Katalonien-Krise ist eine Gelegenheit für Europa, Souveränität, Staatlichkeit und die europäische Demokratie neu zu definieren.
Die Antwort der Europäischen Union auf die Krise in Katalonien war scheinheilig und logisch inkohärent.

  • Sie ist scheinheilig.

Während die Unterminierung von Polens Justiz, ebenso wie die Beschneidung von bürgerlichen Freiheiten in Ungarn von der Europäischen Union explizit verurteilt wurde, schwieg sie zu der systematischen Verletzung bürgerlicher Freiheiten (und sogar der Rechtsstaatlichkeit) in Katalonien während und nach dem umstrittenen Referendum vom 1.Oktober 2017 (z.B. Gewalt gegen Wähler/innen, Verhaftung von Beamten/innen).

  • Sie ist logisch inkohärent.

Indem sich die EU hinter dem Argument versteckt, dass sie eine Union von Staaten ist und nicht von Völkern oder Regionen, stattet die Europäische Union die katalanische Unabhängigkeitsbewegung mit einem schlagkräftigen Motive dafür aus, tatsächlich einen Staat zu gründen!
Darüber hinaus war die EU dafür mitverantwortlich, die Unzufriedenheit, die zur aktuellen Krise führte, auf zumindest zweierlei Weise zu schüren:

  1. Die EU versuchte mit rasanter Austeritätspolitik und Bankenrettungspaketen die Krise ihrer eigenen Variante eines selbstschädigenden Neoliberalismus einzudämmen. Dabei beschnitt sie auch die Souveränität ihrer Mitgliedstaaten. In diesem Zusammenhang nutzte die Regierung in Madrid diese politischen Maßnahmen, um jene Autonomie Kataloniens einzuschränken, die sie nach Francos Tod wieder erworben hatte.(1)
  2. Vor dem Euro hatte Katalonien ein Handelsdefizit gegenüber dem Ausland und einen großen Überschuss gegenüber dem restlichen Spanien (selbst wenn man die Fiskaltransfers berücksichtigt). Doch in Folge des Mismanagements der Eurokrise sowie der in ganz Spanien verfolgten Austeritätsmaßnahmen verwandelte sich Kataloniens Handelsdefizit gegenüber dem Ausland in einen Überschuss (5% des BIP). Zugleich aber bewirkte seine handels- und steuerpolitische Position gegenüber dem restlichen Spanien ein Sinken der Löhne und einen Anstieg der Gewinnspannen großer Unternehmen in ganz Spanien. Kurz: Katalonien wurde “germanisiert” – auf eine Weise, die die Spannungen zwischen der Region und dem restlichen Spanien extrem zuspitzte.

Zusammengefasst: die Katalonienkrise liegt mindestens ebensosehr in der Verantwortung Europas wie in jener der Bevölkerung Spaniens/Kataloniens. DiEM 25 ist gegen jeden Nationalismus and jede Form des Autoritarismus. Statt in der Katalonienfrage die Position einer Seite einzunehmen oder wohlmeinende aber nutzlose Aufrufe zur Mäßigung zu wiederholen, ist es die Ansicht von DiEM 25, dass diese Krise eine ausgezeichnete Gelegenheit für neue progressive paneuropäische Rahmenbedingungen darstellt, die solche Krisen bewältigen können.

Vier Prinzipien

Erstes Prinzip: Eine demokratische EU kann die Kriminalisierung und Verfolgung friedlicher politischer Aktivitäten zur Unterstützung der Unabhängigkeit einer Region nicht tolerieren.
Zweites Prinzip: Die Regierungsorgane einer Region können nicht bloß auf Grundlage einer einfachen oder absoluten Mehrheit die Unabhängigkeit ausrufen.
Drittes Prinzip: Der Begriff von Souveränität und Staatsbürgerschaft, der auf dem Westphälischen System beruht (also: eine Nation, eine Souveränität, eine Staatsbürgerschaft), lässt sich mit einer europäischen demokratischen Union nicht länger widerspruchsfrei vereinbaren und muss neu definiert werden – und zwar auf eine Weise, die mehrfache Souveränitäten und Mehrfach-Staatsbürgerschaften zulässt.
Viertes Prinzip (für Regionen von Mitgliedstaaten der Eurozone): Eine funktionierende Europäische Währungsunion erfordert (a) mehr Fiskaltransfers (nicht weniger), damit Investitionen in ärmeren Regionen finanziert werden können und (b) geringere Handelsdefizite/-überschüsse.
Damit also die EU die Unabhängigkeit einer Region gutheißen kann, müssen Einigungen hinsichtlich bestimmter Maßnahmen erzielt werden: (a) Reduzierung der Defizite/Überschüsse zwischen Regionen und (b) Fiskaltransfers, mit denen Investitionsprojekte (besonders in den Bereichen grüne Energie, Transport und grüne Transitionsprojekte) in den ärmeren Regionen/Staaten finanziert werden.
 

Politische Rahmenbedingungen für den Unabhängigkeitsprozess einer europäischen Region

Heute steht Katalonien in den Schlagzeilen, doch es ist unwahrscheinlich, dass es der letzte Fall dieser Art ist, mit dem Europa konfrontiert sein wird. Zuvor hat bereits Schottland das Recht, seine Unabhängigkeit zu debattieren, ausgeübt und könnte dies, angestoßen durch den Brexitprozess, bald wieder tun. Zweifellos werden andere Regionen folgen.
Die EU muss deshalb einen politischen Rahmen entwickeln, der es erlaubt, sich mit Unabhängigkeitsbewegungen innerhalb von Mitgliedstaaten auseinanderzusetzen – unter Respekt der oben erwähnten vier Prinzipien. Indem dieser politische Rahmen erstellt wird, wird auch die Katalonienfrage leichter zu beantworten sein.
Ein gut etablierter Ablauf, der von der EU für alle Regionen Europas vorgesehen wäre, sollte die oben erwähnten vier Prinzipien berücksichtigen. Der vorgeschlagene Ablauf beinhaltet sechs Bedingungen, die dies gewährleisten sollen. Jede Regionalregierung, die die Unterstützung der EU für ein gesetzlich bindendes Unabhängigkeitsreferendum erhalten möchte, muss diesen sechs Bedingungen zustimmen:

  1. Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Unabhängigkeitsreferendum in Betracht gezogen werden kann, ist, dass die Wahl in der Region von einer Partei gewonnen wird (mit einer absoluten Mehrheit an Wählern und nicht nur an Mitgliedern des Regionalparlamentes), die ein solches Referendum fordert.
  2. Ein daraufhin erfolgendes Referendum sollte in Koordination mit dem Europäischen Rat, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament abgehalten werden –  frühesten aber erst ein Jahr nach der Wahl, damit eine angemessene, sachliche Debatte erfolgen kann.

Damit die Europäische Union dem Referendum zustimmen kann sowie für eine fortgesetzte Mitgliedschaft eines neuen Staates, der aus einem solchen Referendum hervorgegangen ist, muss die Verfassung des neuen Staates auf folgendes hin festgelegt werden:

  1. Garantie der Personenfreizügigkeit zwischen dem neuen Staat und dem Rest der Europäischen Union – selbstverständlich unter Einschluss des restlichen “alten” Landes.
  2. Gewährleistung des Rechts auf Staatsbürgerschaft (aber nicht die Verpflichtung) des neuen Staates, des “alten” Landes und/oder auf europäische Staatsbürgerschaft.
  3. Zusammenarbeit mit den europäischen Behörden, damit zumindest dasselbe Niveau an Fiskaltransfers in den Rest des Landes beibehalten wird – und zwar in Form von Investitionen, die unter Aufsicht europäischer Institutionen (Europäische Investitionsbank und ihres Ablegers,  des Europäischen Investitionsfonds) in die ärmeren Regionen des alten Landes geleitet werden.
  4. Zusammenarbeit mit europäischen Behörden um Handelsüberschüsse oder -defizite gegenüber dem “alten” Land auszugleichen.

Zusammenfassung

Niemand hat das Recht, Bürgern/innen einer europäischen Region zu untersagen, eine eigene Staatlichkeit anzustreben. Eine Region kann aber eine eigene Staatlichkeit und zugleich die Mitgliedschaft in einer demokratischen, gut funktionierenden Europäischen Union nur anstreben, wenn sie die Grundprinzipien einer demokratischen gut funktionierenden Europäischen Union respektiert.
Fortgesetzte Mitgliedschaft in einer demokratischen Europäischen Union muss eine wirkliche interregionale Solidarität, Personenfreizügigkeit, Mehrfachidentitäten und -staatsangehörigkeiten sowie den Ausgleich wirtschaftlicher, finanzieller und sozialer Ungleichgewichte zur Bedingung haben – während zugleich in eine grüne Zukunft investiert wird. Das sind auch jene Prinzipien, auf denen der Europäische New Deal von DiEM 25 beruht, der zur Anwendung in jedem Land, jeder Region Europas gedacht ist.
Der Umstand, dass die EU aufgrund ihres selbstschädigenden Neoliberalismus darin versagt hat, eben solche Bedingungen zu fördern, die eine demokratische Europäische Union kennzeichnen sollten, ist kein Grund für progressive Anhänger/innen Europas, aufzugeben. Wäre es nicht großartig, wenn die Katalonienkrise und die unbedingte Notwendigkeit, ihr mittels eines angemessenen politischen Rahmens zu begegnen, europäische Demokraten dazu ermutigen würde, die EU als eine demokratische Europäische Union neu zu gestalten? Wir bei DiEM 25 stehen gerade dafür ein!
 

  1. Zum Beispiel annullierte der spanische Verfassungsgerichtshof politische Maßnahmen Kataloniens – unter anderem ein garantiertes Grundeinkommen, Armutsbekämpfung, Steuern auf Nuklearabfälle und zuckerhaltige Getränke. Unlängst beschränkte Madrid das Recht der Stadt Barcelona, den städtischen Budgetüberschuss für Sozialprojekte zu verwenden und verbot die Unterbringung von Flüchtlingen in Einrichtungen, die die Stadt für eben diesen Zweck errichtet hatte

 

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