Deutschlands Multilateralismus des Grauens

Fünf erschreckend aktuelle Beispiele für deutsche Diplomatie auf gefährlichen Abwegen und unsere Ziele für eine Diplomatie der internationalen Solidarität und Gerechtigkeit. Ein Statement des Koordinationsteams von MERA25 und DiEM25 in Deutschland.

Teil des politischen Nachkriegskonsens in unserem Land war schon immer – zumindest oberflächlich – die Verpflichtung zur Verständigung und zum Interessenausgleich auf weltpolitischer Ebene. Politiker:innen in Regierungsverantwortung werden nicht müde zu betonen, wie wichtig es ist, möglichst viele andere Staaten in Fragen der internationalen Politik einzubinden und mitzunehmen. Wenn Entscheidungen über die Bewältigung von Problemen, die viele betreffen, auch von vielen gemeinsam getroffen werden, trägt das zur Konfliktprävention bei und schafft die beste (weil breiteste) Basis für wirksame Lösungsansätze.

Dieses außenpolitische Prinzip, genannt Multilateralismus, wird aus guten Gründen, die in der deutschen Vergangenheit liegen, heutzutage von kaum einer politischen Kraft (abgesehen vom rechten Rand des Parteienspektrums) mehr in Frage gestellt, wenngleich das Bekenntnis zu und die ernsthafte Bemühung um Multilateralismus natürlich zwei Paar Schuhe sind. Bundesregierungen kommen und gehen, doch die Konstante bleibt: Verträge im Rahmen internationaler Bündnisse und Institutionen sind erstrebenswerter (und ergiebiger), als es unzählige bilaterale Abkommen zwischen Deutschland und weiteren Einzelstaaten jemals sein könnten. Soweit, so nachvollziehbar.

Wie wir, scheint auch die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP so zu denken. Allerdings hört es da dann schon wieder auf mit den ideologischen Gemeinsamkeiten in der Außenpolitik. Denn Multilateralismus ist kein Selbstzweck. Wie bei sämtlichen leitgebenden Prinzipien kommt es darauf an, was man im Zuge ihrer Anwendung daraus macht. Und die Ampel … nun ja. Deutschlands Positionen in multilateralen diplomatischen Verhandlungen sind unter der Regierung von Kanzler Olaf Scholz ebenso skandalös und verantwortungslos wie unter nominell konservativeren Vorgängerregierungen. Hier sind fünf Beispiele, die das eindringlich illustrieren:

Klimapolitik: Öffentliche Fördergelder für fossile Investitionen

Keine staatlichen Subventionen mehr für neue Projekte der fossilen Energiewirtschaft – das war das erklärte Ziel der Staats- und Regierungschefs der sieben großen Industrieländer, die unter dem Banner der G7 vor wenigen Tagen zu ihrem jährlichen Gipfeltreffen zusammenkamen. Die aufgrund der deutschen Präsidentschaft diesmal im bayerischen Bergidyll von Schloss Elmau tagenden Spitzenpolitiker haben es sich dann aber doch anders überlegt, u.a. auf Drängen von Bundeskanzler Scholz, der etwa in Westafrika noch neue Gasvorkommen erschließen möchte – Langfristige Vorhaben, die an der momentanen Gasknappheit überhaupt nichts ändern, uns dafür wirtschaftlich aber weiter in die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern bringen. Dazu passt auch die bisherige Weigerung der Bundesregierung, aus dem internationalen Energiecharta-Vertrag (ECT) auszusteigen, der fossile Investitionen weltweit begünstigt und dessen Neuverhandlung jüngst scheiterte. Die planetaren Ökosysteme werden unterdessen immer mehr beschädigt und die Lebensgrundlagen der menschlichen Zivilisation zerstört.

Wir setzen uns für einen sofortigen Stopp staatlicher Subventionen für fossile Projekte ein. Wir brauchen stattdessen einen Green New Deal, das heißt Investitionen für geteilten Wohlstand, eine erstklassige Infrastruktur und Klimaneutralität bis 2030.

Handelspolitik: Freie Bahn für freien Handel (und Schiedsgerichte)

Wie der ECT enthält auch das “Freihandelsabkommen” CETA zwischen der EU und Kanada problematische Klauseln zum Investitionsschutz, die z.B. die Etablierung eines ominösen Schiedsgerichts vorsehen, dass es Unternehmen erlauben würde, Staaten auf Schadensersatzzahlungen für vermeintlich entgangene Gewinne zu verklagen. Hinzu kommen ungeklärte Fragen zu Umweltstandards und Arbeitsschutzregelungen. Trotzdem möchte die Ampelkoalition das Abkommen jetzt vom Bundestag ratifizieren lassen. Dies würde, sobald die restlichen Vertragsparteien ihre Ratifikation ebenfalls abgeschlossen haben, an den transatlantischen Handelsbeziehungen kaum etwas vereinfachen, da seit 2017 durch das vorläufige Inkrafttreten von Teilen des Abkommens die meisten Handelsbeschränkungen ohnehin bereits abgebaut worden sind. Sehr wohl aber würde es den Investitionsschutz für den Privatsektor rechtlich verankern und damit eine Machtverschiebung von gewählten Gesetzgeber:innen hin zum freien Markt bedeuten. Um dieser Kritik zuvorzukommen, fordert die Ampel lediglich eine “Interpretationserklärung” für CETA. Dass sich auch erklärte Interpretationen noch unterschiedlich interpretieren lassen und darüber hinaus keine Rechtsverbindlichkeit besitzen, ist ihr wohl nicht aufgefallen.

Wir setzen uns für den Stopp von CETA ein und wollen undemokratische Investor-Staat-Schiedsgerichte aus allen internationalen Abkommen streichen.

Migrationspolitik: Rechtsstaatliche Grundsätze ade

Die vor Kurzem getroffenen Beschlüsse des EU-Minister:innenrats haben es in sich: Mit Unterstützung Deutschlands, vertreten durch SPD-Innenministerin Nancy Faeser, einigten sich die 27 Regierungen auf eine überarbeitete Version des Schengener Grenzkodex. Dieses rechtliche Rahmenwerk würde in seiner Neufassung die pauschale Schließung der europäischen Außen- oder Binnengrenzen in betroffenen Grenzabschnitten erlauben, sofern ein EU-Mitgliedsstaat eine “Instrumentalisierung von Migration” feststellt. Damit werden Praktiken wie die der polnischen Regierung an der polnisch-belarussischen Grenze legalisiert und das Recht auf ein ordentliches Asylverfahren faktisch ausgesetzt. Des Weiteren soll eine neue sogenannte Screening-Verordnung eine “Fiktion der Nichteinreise” etablieren, die es Geflüchteten zusätzlich erschwert, Asyl zu beantragen, und ihre Abschiebung erleichtert. Die endgültige Version dieser Regelungen hängt nun vom Ausgang interinstitutioneller Verhandlungen innerhalb der EU ab. Die Scholz-Regierung hat bewiesen, dass rechtsstaatliche Grundsätze für sie dabei nichts gelten.

Wir setzen uns für schnelle und faire Asylverfahren ohne Aushöhlung der Rechtsgarantien der Asylsuchenden ein. Die überarbeitete Version des Schengener Grenzkodexes lehnen wir ab.

Gesundheitspolitik: Private Profite über Menschenleben

Nach wie vor zirkuliert das SARS-Coronavirus-2 in immer neuen Varianten, erkranken und sterben jeden Tag Menschen an COVID-19, und nach wie vor blockiert die deutsche Bundesregierung in der Welthandelsorganisation (WTO) die Freigabe der Impfstoffpatente. Stattdessen unterbreiten die EU und die USA dem Rest der Welt lieber einen “Kompromissvorschlag”, der nur als absolut inadäquat, ja sogar kontraproduktiv bezeichnet werden kann. Bis heute sind weniger als 20% der Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen gegen COVID-19 geimpft. Ohne geistige Eigentumsrechte auf lebensrettende Impfstoffe und Medikamente könnten es schon viel mehr sein – und weniger Pharma-Milliardäre. Deutschland und andere westliche Staaten riskieren somit die mögliche Entstehung noch ansteckenderer Virusmutationen, die auch den Impffortschritt in der eigenen Bevölkerung zurücksetzen würden. Wenn selbst viele Mainstream-Ökonom:innen keine guten Argumente gegen eine Aussetzung und Reform des Patentschutzes finden, ist es höchste Zeit, dass die Bundesregierung ihren Widerstand aufgibt.

Wir setzen uns für ein Impfangebot für die gesamte Weltbevölkerung ein, um Leben zu schützen und weitere Mutationen des Coronavirus zu verhindern. Wir kämpfen deshalb für die Freigabe der Impfstoff-Patente und einen umfassenden Know-How-Transfer für alle Schritte der Herstellung.

Europapolitik: Mangelnder Einsatz für Vertragsreformen

Die Koalitionsvereinbarungen der Ampel sehen vor, dass sich Deutschland für die Einberufung eines EU-Konvents zur Änderung der Europäischen Verträge einsetzt. Das Europäische Parlament ist bereits vorgeprescht und hat Anfang Juni in einer Resolution einen eben solchen Konvent gefordert. Die perfekte Ausgangslage also für Olaf Scholz, sich im Kreis der europäischen Staats- und Regierungschefs dafür stark zu machen – sollte man meinen. Doch beim EU-Gipfel Ende Juni in Brüssel stand das Thema Vertragsänderungen nicht mal auf der Tagesordnung. Zwar erfordern solche Reformen letztlich Einstimmigkeit, doch schon mit einfacher Mehrheit im Europäischen Rat könnte der Reformprozess in Form eines Konvents angestoßen werden. Genau das scheint die Bundesregierung nun jedoch abzulehnen, entgegen den Bestimmungen ihres Koalitionsvertrags. Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock befürwortet zur aktuellen Zeit keine Vertragsänderungen und möchte lieber von der Passerelle-Klausel Gebrauch machen, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen. Das heißt, der Rat müsste einstimmig beschließen, in bestimmten Angelegenheiten nicht einstimmig zu beschließen. Inwiefern das praktikabel und einem Konvent überlegen sein soll, ist schwerlich zu verstehen. Wenn die EU Bestand haben will, braucht sie keine kleinen Reformschritte, sondern eine grundlegende Weiterentwicklung in Richtung eines demokratischen, souveränen Bundesstaats. Nichts Geringeres wird sie retten! Dass dies nicht einfach zu erreichen sein wird, liegt auf der Hand. Die Bundesregierung aber zeigt, dass sie nicht einmal bereit ist, den Versuch zu unternehmen.

Wir setzen uns für die Demokratisierung der EU ein und wollen gemeinsam mit allen Bürger:innen Europas eine Verfassung schreiben. Sie muss die bestehenden europäischen Verträge ersetzen und jegliche Regeln beseitigen, welche die Ungerechtigkeiten ermöglichen und unsere Zukunft zerstören.

 

Angesichts dieser unverantwortlichen Politik ist es wichtig, sich folgendes stets in Erinnerung zu rufen: Zur Haltung der Bundesregierung in den beschriebenen multilateralen Gesprächen gibt es konkrete Alternativen. Wir glauben, dass alle sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen von Menschen gemacht sind und daher von Menschen verändert werden können. Dafür stehen wir ein. Das wollen wir nicht nur für dich tun – sondern mit dir! Denn Veränderung kommt niemals von oben. Machst du mit? Werde hier MERA25-Mitglied!

Möchtest du über die Aktionen von DiEM25 informiert werden? Registriere dich hier

Gründungstreffen MERA25 Karlsruhe

In Karlsruhe hat sich unsere Mitgliederzahl im vergangenen Jahr verdoppelt, so dass wir nun zu den größten Gruppen in Baden-Württemberg gehören

Mehr erfahren

Noch 100 Tage bis zur Bundestagswahl: Zeit, das System zu durchbrechen!

In 100 Tagen haben wir die Chance, uns gegen eine Politik zu stellen, die Macht und Reichtum verteidigt, während die demokratische Teilhabe ...

Mehr erfahren

Jüdische Organisationen weltweit verurteilen die Bundestagsresolution zu Antisemitismus

Als jüdische Organisationen in 21 Ländern auf 6 Kontinenten, die eine Vielzahl von Mitgliedern mit unterschiedlichen jüdischen Hintergründen und ...

Mehr erfahren

Deutschland: Skrupellose Politik mit erhobenem Zeigefinger

Nirgends zeigt sich der moralische Zeigefinger deutlicher als in Deutschlands Vorliebe, sich selbst in glorreichen Superlativen an der Spitze ...

Mehr erfahren