Rettet uns, boykottiert uns: Aufruf eines israelischen Bürgers

Es fällt mir schwer, dies zu schreiben, nicht nur, weil es nach israelischem Recht illegal ist, zum Boykott aufzurufen, sondern auch, weil die Leidtragenden dieses Boykotts meine Familie und ich sein werden. Aber leider gibt es keine andere Wahl.

Mehr als ein Jahr ist vergangen, ein Jahr, in dem das Dröhnen der Düsentriebwerke von Kampfflugzeugen das Zwitschern der Vögel ersetzt hat. Ein Jahr, in dem der Staat Israel, der Ort, an dem ich geboren wurde, der Ort, an dem ich meine Kinder großgezogen habe, viel zu viele Schritte in Richtung des Abgrunds gemacht hat, aus dem es kein Zurück mehr gibt.

Für Israelis lässt sich dieses Jahr mit einem Tag zusammenfassen, dem 7. Oktober 2023. Die Fernsehsender haben nicht einen einzigen Tag lang aufgehört, die Geschichte dieses Tages zu erzählen, über seine Opfer und Geschichten von Heldentum zu sprechen, während sie den Horror des Krieges in Gaza, der damals begann und bis heute andauert, fast vollständig ignorieren.

Dieser Tag ist anscheinend der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt für den Verlust des „Israelisch sein“, von dem ich dachte, dass es existiert.

Im letzten Jahr hat der Staat Israel seine letzte Orientierung verloren. Schon vorher waren wir ein Besatzungsland, das missbraucht, ein Land, das demokratische Praktiken im Westjordanland aufgegeben hat und schnell dazu überging, sie in seinem eigenen souveränen Gebieten aufzugeben, aber heute ist die Situation schlimmer denn je.

Von einem Land, das nach Frieden strebte (zumindest teilweise), einem Land, das das Leben schätzte, haben wir uns in ein Land verwandelt, das ein Agent des Todes ist. Ein Land, dessen Medien Bilder von leidenden und sterbenden Kindern in Gaza ignorieren, aber stolz den verstümmelten Körper von Yahya Sinwar zeigen, ohne ihn zu verwischen. Ein Land, dessen Bürger:innen den Tod eines Feindes feiern, während 101 Geiseln gefangen gehalten werden.

Und derjenige, der erfolgreich auf dieser Welle des Hasses reitet, ist Premierminister Benjamin Netanjahu, ein Mann, der glaubt, dass sein persönlicher Nutzen der Nutzen des Staates ist, ein krimineller Angeklagter, der bereit ist, jeden Wert und jeden Menschen zu opfern, um an der Macht zu bleiben. Deshalb hat er auch nach der Beseitigung von Sinwar und der Niederlage der Hamas nicht die Absicht, ein Abkommen voranzutreiben, das die Freilassung der Geiseln und einen israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen vorsieht. Seine religiösen Koalitionspartner und viele seiner eigenen Parteimitglieder wollen die 2005 geräumten Siedlungen in Gaza wieder aufbauen; sie wollen erobern, nicht die Geiseln freilassen. Einige von ihnen haben bereits begonnen, über die Errichtung von Siedlungen im südlichen Libanon zu sprechen – das ist ihr Ziel: Ewiger Krieg, immer mehr Eroberungen.

Das ist jetzt das Ziel des Krieges – zu erobern und zu besiedeln, nicht zu verteidigen und schon gar nicht die Freilassung der Geiseln herbeizuführen.

Die israelische Öffentlichkeit ist zu frustriert, zu gequält, zu hasserfüllt, um das zu stoppen. Selbst die Opposition ist schwach, ängstlich und ineffektiv. Die einzige Möglichkeit, einen bedeutenden Druck zu erzeugen, der die israelische Regierung zu einer Änderung ihrer Politik zwingt, muss von außen kommen. An erster Stelle steht ein möglichst umfassendes Waffenembargo. Israel sollte ein Recht auf Defensivwaffen haben, um seine Bürger:innen vor ballistischen Raketen und Drohnen zu schützen, die aus dem Libanon, Iran, Jemen, Syrien und Irak auf uns abgefeuert werden, aber in der gegenwärtigen Situation so wenig Offensivraketen und -granaten wie möglich besitzen, die zu oft Zivilist:innen und nicht Feinde treffen.

Aber das reicht nicht aus. Der Druck muss auch von der Zivilgesellschaft ausgehen – von uns! Es fällt mir schwer, dies zu schreiben, nicht nur, weil es nach israelischem Recht illegal ist, zum Boykott aufzurufen, sondern auch, weil die Leidtragenden dieses Boykotts auch meine Familie und ich sein werden. Aber leider gibt es keine andere Wahl. Um Israel zu retten, muss die Teilnahme von israelischen Sportvereinen und Nationalmannschaften an europäischen und internationalen Sportereignissen und Ligen ausgesetzt werden – kein Europapokal mehr, kein Eurovision, kein Horizon 2020, keine akademischen Kooperationen mehr – Boykott!

Ja, es wird ein harter Schlag für mein geliebtes Basketballteam sein, für meine Tochter, die Eurovision liebt, und für viele linke Menschen, die Teil der akademischen Welt und der israelischen Geschäftswelt sind, aber da wir keine Möglichkeit haben, von innen heraus Einfluss zu nehmen, müssen wir jedes bisschen Druck unterstützen, das von außen ausgeübt werden kann.

Vertreter:innen der Europäischen Union, europäische Länder, Leiter:innen internationaler Sport- und Kulturorganisationen, es hängt von euch ab. Israel ist nicht Russland; es ist ein kleines Land, in dem die sportliche, kulturelle, wirtschaftliche und akademische Isolation viel schwieriger ist, zu schwer zu ertragen. Leider ist das im Moment die einzige Möglichkeit, Israel auf den Pfad der Vernunft zurückzuzwingen und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu bewahren – für die Israelis, für die Palästinenser:innen und für die gesamte Region.


Dieser Artikel wurde von einem israelischen Staatsbürger geschrieben, der es aus Sicherheitsgründen vorzieht, dass sein richtiger Name nicht bekannt wird

 

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