Arbeitsminister Heils Bürgergeldsanktionen: Kontrolle statt Solidarität

Arbeitsminister Heil will „Totalverweigerer“ stärker bestrafen und droht mit bis zu zwei Monaten Totalkürzungen des Bürgergeldes. Dieser Vorschlag kann nur als weiterer missglückter Anbiederungsversuch der Sozialdemokraten seit den Hartz IV-Reformen angesehen werden, Härte in der Sozialpolitik zu beweisen. Zustimmung gibt es von den Parteien, die schon immer Zweifel an der Arbeitswilligkeit arbeitsloser Menschen hegten (FDP und CDU/CSU) und auf das „Fordern“ von Gegenleistungen gegenüber dem „Fördern“ aus der Solidargemeinschaft drängen. Doch das Vorhaben diskreditiert einfach nur Leistungsberechtigte und vertieft unnötig Gräben zu denen, die sich als Einzahlende in die Sozialversicherung betrogen sehen. Eine echte Solidargemeinschaft – oder besser: soziale Gesellschaft – gibt es nur über das bedingungslose Grundeinkommen: ohne Missgunst, ohne Kontrollapparat, mit mehr Selbstbestimmung und persönlicher Freiheit. Eine Abrechnung mit den fünf Märchen rund um die Bürgergeldsanktionen.

Märchen 1: Jedem/jeder ist eine Beschäftigung zumutbar

Die Definition von Zumutbarkeit im Sozialgesetzbuch (SGB III § 140 und SGB II § 10) ist sehr eigenwillig und deckt sich kaum mit den allgemeinen Vorstellungen guter Arbeit. So gilt jede Arbeit als zumutbar unabhängig der Ausbildung oder eigenen Qualifikation. Mit anderen Worten: einer Geisteswissenschaftlerin ist auch ein Putzjob, einem Monteur die Arbeit an der Supermarktkasse zuzumuten. Unzumutbar sind nur Jobangebote, die das Arbeitsrecht, das Tarifrecht oder den Arbeitsschutz verletzen. Wer allerdings, wenn auch nur vorübergehend, einen Job unterhalb der erworbenen Qualifikation annimmt, riskiert langfristig eine Abwertung der eigenen Fähigkeiten. Denn welche:r zukünftige Arbeitgeber:in bewertet diesen Bruch in der Erwerbsbiographie ohne Verdacht auf mangelnde Eignung?

Zumutbar sind gemäß SGB auch lange Pendelzeiten von bis zu vier bis fünf Stunden am Tag (2 bzw. 2,5 Stunden pro Strecke bei Arbeitszeiten bis zu 6 Stunden am Tag bzw. darüber). Man muss nicht erst lange Studien zur schädlichen Wirkung langer Pendelwege und -zeiten lesen, um diese Regelung als aberwitzig zu erkennen. Hand hoch, wer unter diesen Bedingungen nicht auch das Jobangebot ablehnen würde. Ein Umzug (bestimmte familiäre Bedingungen ausgenommen) und eine vorübergehende doppelte Haushaltsführung gelten im Übrigen nach SGB auch als zumutbar.

Zuzumuten sind auch Abstriche im Gehalt. In den ersten beiden Monaten muss man zwar keinen Job annehmen, dessen Entlohnung mehr als 20 % unter der Bemessungsgrenze für das Arbeitslosengeld liegt (in den Monaten 3 bis 6 30 %), aber nach einem halben Jahr müssen sich die Gehaltserwartungen auf mindestens Nettoarbeitslosengeld plus Aufwendungen für die Arbeit reduzieren. Unter diesen Rahmenbedingungen und gesetzt eigener finanzieller Verpflichtungen lohnt sich nicht jede Arbeit für jede:n. Es sollte möglich sein, länger und ohne Abstriche nach dem geeigneten Jobangebot in der Nähe zu suchen.

Märchen 2: Wegen des Bürgergeldes lohnt Arbeit nicht mehr

Aber vielleicht rührt daher die Mär, dass sich das Arbeiten generell nicht mehr lohne. Das Boulevard-Fernsehen führt sie uns ja vor, die „Arbeitsscheuen“, die es sich auf dem Geld vom SGB II, jetzt Bürgergeld, bequem machen. Doch Sendungen wie „Armes Deutschland – Stempeln oder Abrackern?“ (RTL 2) oder „Hart aber fair“ (ARD, 13.11.2023) pfeifen auf vollständige Fakten, sondern suchen den höchstmöglichen Unterhaltungswert. Bei den Bürger:innen überwiegt nach dem Konsum solcher Sendungen, dass das Bürgergeld keinen Anreiz mehr zur Aufnahme einer Arbeit bietet (MDR fragt). Dabei ist das Ziel des Bürgergeldes als Nachfolgerin von Hartz IV, der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialgeld, das Grundrecht auf Existenz und angemessenen Lebensunterhalt zu sichern. Es ist eine Grundsicherung für grundsätzlich Erwerbsfähige, die aus verschiedensten Gründen ihren Lebensunterhalt selbst nicht bestreiten können. Und diese Gründe sind vielfältig, neben fehlendem Job u.a. gesundheitlich, psychologisch, sozial und/oder familiär bedingt. Hier werden unnötig Menschen in Bürgergeldbezug mit Menschen im Niedriglohnsektor gegeneinander in Stellung gebracht.

Märchen 3: Missbrauch der Solidargemeinschaft muss sanktioniert werden

Da Arbeit neben dem Verdienst auch Aspekte der sozialen Integration, Selbstbestimmung und Erfüllung beinhaltet oder beinhalten kann, ist für die meisten Menschen Arbeitslosigkeit keine selbstgewählte Option. Weniger als 2 % der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten wurden und werden im Durchschnitt mittels Leistungskürzungen sanktioniert (BA). Das sind bundesweit bei knapp 4 Millionen Bürgergeldempfängern ca. 7.500 bis 8.000 Personen. Von diesen Menschen kennen wir nicht die persönlichen Schicksale oder Gründe, aus denen sie sich den Maßnahmen der Jobcenter entziehen. Leben Menschen in sozial schwierigen Verhältnissen, ist die eigene Perspektivlosigkeit nicht selten eine Folge des Umfeldes. Diese Menschen benötigen ein Mehr an sozialer und/oder psychologischer Hilfe und kein Weniger an Leistungen bis zur Existenznot. Weder individuell noch gesamtgesellschaftlich sind Sanktionen ein probates Mittel.

Märchen 4: Das Bürgergeld wurde gegenüber Hartz IV deutlich erhöht und ist auskömmlich

Nach eigener Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) sichern die ermittelten Regelbedarfe das Existenzminimum und ein Minimum an sozialer Teilhabe. Beides wird von vielen Sozialverbänden in Frage gestellt. Anders als die Meisten vermuten, stützt sich die Regelbedarfsermittlung nicht auf den allgemeinen Warenkorb und Preisindex, sondern nur auf den von Menschen mit niedrigen Einkommen. Deren Sparverhalten – und die zunehmende Inanspruchnahme der zivilgesellschaftlich organisierten Tafeln – schränkt also schon per Definition ein, was BMAS und der Gesetzgeber unter einem „Minimum an Existenz und sozialer Teilhabe“ verstehen. Des Weiteren werden bestimmte Waren bei der Ermittlung des Regelbedarfs als nicht existenznotwendig ausgeschlossen: Genussmittel wie Alkohol und Tabak, Pauschalreisen und Flüge, KfZ, Schnittblumen, Haustiere. Diese Vorgaben sind paternalistisch und moralisierend. Wer sich diese Güter leisten möchte, muss an anderer Stelle sparen, z.B. an den knapp bemessenen Beiträgen für Lebensmittel.

Märchen 5: Asylbewerber und Bürgergeldempfänger bekommen mehr Geld als ein:e Rentner:in, die lebenslang Beiträge gezahlt hat

Immer wieder setzt die AfD Gerüchte in die Welt, wonach mal Asylbewerber:innen, mal Bürgergeldempfänger:innen monatlich mehr Geld und ohne Gegenleistung bekämen als eine durchschnittliche Rentner:in, die 35 Jahre und mehr in die Rentenkasse eingezahlt hat. Auch werden Skandalnachrichten verbreitet, in denen Einzelpersonen monatlich über 1.000 Euro oder vierköpfige Familien über 2.500 Euro aus unseren Sozialkassen erhalten, während die Durchschnittsrente weit unter 1.000 Euro liege. Alle Behauptungen werden natürlich nie mit vertrauenswürdigen Quellen belegt und entbehren jeder Substanz. Hier ein paar Angaben zum Vergleich: In 2023 betrug das Bürgergeld für eine:n alleinstehende:n Erwachsene:n 502 Euro (ab 1.1.2024 563 Euro), für eine:n Asylbewerber:in 364 Euro. Der durchschnittliche Zahlbetrag pro Rentner:in betrug im gleichen Zeitraum 1.384 Euro. Eine Familie mit zwei Kindern zwischen 14 und 17 Jahren (höchster Satz für minderjährige Kinder) kommt im Bürgergeld auf monatlich 1.742 Euro (ab 1.1.2024 1.954 Euro), eine vergleichbare Familie im Asylverfahren 1.302 Euro. Insgesamt beliefen sich die Bruttoausgaben für alle Asylbewerberleistungen 2022 auf knapp 6,5 Mrd. Euro, die Bruttoleistungen nach SGB II auf 46,8 Mrd. Euro und die Zuschüsse des Bundes in die Rentenkassen (Defizitausgleich) auf 87,4 Mrd. Euro. Diese Zahlen sind nachprüfbar im Asylbewerberleistungsgesetz, beim BMAS zum Bürgergeld, beim Statistischen Bundesamt und bei der Deutschen Rentenversicherung.

Diese Märchen vernebeln das Grundübel am Bürgergeld: Es ist immer zu knapp bemessen, da die Bemessungsgrundlage sich am untersten Rand bewegt und zu spät auf aktuelle Preisentwicklungen reagiert. Es schafft nicht hinreichend die soziale Teilhabe, weil Erlebnisse, Kultur, Reisen minimalistisch oder ganz herausgerechnet werden. Es schafft permanenten Druck der Rechtfertigung, denn das Versäumen von Terminen, die Ablehnung von Angeboten wird sanktioniert und der Nachweis der Bedürftigkeit ständig eingefordert. Und es schafft ein Klima des Misstrauens und der Missgunst in der übrigen Bevölkerung, weil das erklärte Ziel der Gewährung der Leistung immer auch das absehbare Ende ihrer Gewährung ist, nämlich die Aufnahme einer Erwerbsarbeit.

Kein Märchen: das bedingungslose Grundeinkommen schafft wahre finanzielle Sicherheit – für Alle

Satt Hartz IV – die angekündigten Sanktionen des Herrn Heil bestätigen, dass das Bürgergeld nur ein netterer neuer Name für das bestehende System ist – gibt es eine menschenfreundliche, solidarische Alternative: das bedingungslose Grundeinkommen. Es wird jedem/jeder Einwohner:in gewährt, unabhängig des Alters oder des Einkommens. Es ist an keine Bedingungen geknüpft. Es kann als universelle Dividende der nationalen Ökonomie verstanden werden, die an alle ausgeschüttet wird und nicht, wie im bestehenden kapitalistischen System, an die Wenigen. Und in Bezug auf die vier Märchen des Bürgergeldes:

  1. Welche Arbeit aufgenommen oder für sich als annehmbar gewertet wird, entscheidet jede:r selbst. Der Druck, bullshit-jobs oder mit der Familiensituation unvereinbarer Jobs aufzunehmen, entfällt.
  2. Niemand muss sich für Zeiten ohne Erwerbsarbeit rechtfertigen. Jedem/jeder steht die Zeit frei, in der er oder sie sich erholen oder anderen Dingen widmen kann. Denn auch andere Formen der Beschäftigung bringen gesellschaftlichen Mehrwert, z.B. Fürsorge für andere, ehrenamtliches oder künstlerisches Engagement.
  3. Der Kontrollapparat in den Jobcenter kann entfallen. Die Beschäftigten dort können sich sinnvolleren Aufgaben widmen, nämlich echter Unterstützungsleistung für Ratsuchende.
  4. Ein auskömmliches Grundeinkommen wird aktuell in Deutschland auf ca. 1200,- Euro monatlich geschätzt (siehe z.B. FRIBIS). Dies ist doppelt so hoch wie der aktuelle Bürgergeld-Regelbedarf Stufe 1 (Erwachsener). Keine komplexen Berechnungen, gültig für alle.

Das Grundeinkommen ist machbar und finanzierbar. Darum fordert MERA25 die Einführung des Grundeinkommens bzw. des „universellen Lebenseinkommens“ in seinem Europawahl-Programm. In der Einführungsphase soll es zunächst auf die 50 % ärmere Bevölkerung angewendet werden, später dann natürlich für alle gelten.

Quellen:

BMAS: Bürgergeld

BMAS: Regelbedarfsermittlung

BMJ: Asylbewerberleistungsgesetz

Deutsche Rentenversicherung: Rentenatlas 2023

FRIBIS – Freiburger Institut zur Erforschung des Grundeinkommens

Hans-Böckler-Stiftung: Pendeln schadet der Gesundheit

MDR fragt

MDR Faktencheck

Sozialgesetzbuch

Statistiken der Bundesagentur für Arbeit

Statistisches Bundesamt: Datenbank GENESIS online

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