Deutschland ist der Dreh- und Angelpunkt des europäischen Projektes – oder sollte es zumindest sein . Aber das Projekt ist gefährdet, weil es politisch nicht gelingt, die Interessen der meisten Deutschen mit den Interessen der meisten anderen Europäer*innen in Einklang zu bringen. Deshalb braucht Deutschland neue Vorstellungen und politische Programme, die einen neuen Antrieb für die europäische Politik geben – einer Politik, die das gemeinsamen Interesse einer Mehrheit von Europäer*innen sichtbar macht und ihnen eine neue Stimme gibt.
Aber wer wird diese neuen Vorstellungen und politischen Programme verbreiten? Bis jetzt war der Wahlkampf in diesem Sinne nicht sehr ermutigend.
Also hat DiEM25 sich der Sache angenommen und vor der Bundestagswahl am 24. September mehrere Aktionen gestartet.
Und zwar so:
Wir haben ein Dokument mit 8 Vorschläge unter den deutschen Mitgliedern und Lokalgruppen (DSCs) zirkuliert. Diese haben das Dokument diskutiert, es bei öffentlichen Veranstaltungen eingebracht, es redigiert, und – was am wichtigsten ist: sie sind in Kontakt mit ihren Parteien und Bundestagskandidierenden getreten.
Zudem bestätigen unsere deutschen Aktivisten in den nächsten Tagen eine Liste progressiver Kandidaten, die sich persönlich zu den grundlegenden Ideen von DiEM25 bekannt haben. Wie auch bei der französischen Parlamentswahl im Juni werden wir diese Liste auf diem25.org veröffentlichen und regelmäßig aktualisieren.
Unten finden Sie unser ursprüngliches Diskussionsdokument, „8 Vorschläge für Deutschlands Progressive.“
8 Vorschläge für Deutschlands Progressive
Einführung
Deutschland ist der Dreh- und Angelpunkt des europäischen Projektes – oder sollte es zumindest sein Aber das Projekt ist gefährdet, weil es politisch nicht gelingt, die Interessen der meisten Deutschen mit den Interessen der meisten anderen Europäer*innen in Übereinstimmung zu bringen. Alle Sätze, die mit “die Deutschen…” beginnen, ob sie eine positive oder negative Bewertung enthalten, sind irreführend, verallgemeinernd und und untergraben letztendlich das gemeinsame Interesse einer Mehrheit der Europäer*innen und fortschrittlicher Politik überhaupt.
Wir haben DiEM25 ins Leben gerufen, um neue Vorstellungen und politische Programme anzubieten, die einer neuen Politik in Europa Antrieb geben und dem gemeinsamen Interesse einer Mehrheit von Europäer*innen Sichtbarkeit und Stimme geben sollen. Deshalb ist Deutschland zentral für die Politik von DiEM25. Es war kein Zufall, dass DiEM25 in Berlin gegründet wurde.
Für progressive Kandiat*innen der im September bevorstehenden Bundestagswahlen hat DiEM25 die folgenden acht Vorschläge.
- Zu Deutschlands Modell der sozialen Marktwirtschaft
Deutschland wurde weltweit beneidet um seinen Sozialvertrag, welcher der Arbeiterklasse starken Schutz bot (und Sitze in den Aufsichtsräten großer Firmen) gegen die Vereinbarung flexibler Regeln im Umfeld der freien Marktwirtschaft, unter denen die Unternehmen arbeiten können. Zusammen mit lokalen Banken, verknüpft mit Industrien verschiedener Größen und unter positiven globalen Rahmenbedingungen konnte sich das sogenannte ‘Deutsche Wirtschaftswunder‘ entfalten.
Seit der Schaffung des Euro und der durch ihn verursachten Bankenkrise wurde Deutschlands wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit allerdings zunehmend auf Kosten des deutschen Modells der Sozialen Marktwirtschaft erkauft. Die Präkarisierung vieler Arbeiter*innen, der Druck auf die Löhne, die Verdoppelung der Quote von Erwerbsarmut, die zunehmend zuversichtlichen Versuche der Christdemokraten, die Sozialausgaben und öffentliche Investitionen zu begrenzen – all diese Entwicklungen verändern still das deutsche Modell der Sozialen Marktwirtschaft in eine Mogelpackung, die nur noch ferne Ähnlichkeit hat mit dem, was deutsche Sozialdemokraten einst glaubten, erreicht zu haben. Außerdem werden derzeit weitere ‘Strukturreformen’ in anderen Gegenden der Eurozone getestet, die die Lebensperspektiven von Millionen Deutschen künftig noch mehr einschränken werden.
Wir rufen fortschrittliche Kandidat*innen zur Bundestagswahl auf:
Machen Sie den Menschen in Deutschland klar, dass die (begrenzten) Errungenschaften des deutschen Modells ernsthaft bedroht sind und dass darüber hinaus die Entwicklungen im Rest der Eurozone den Abbau der deutschen Tradition der Sozialen Marktwirtschaft ermöglichen. Deren Verteidigung und die notwendigen Verbesserungen von Deutschlands sozialdemokratischen Institutionen und Modellen gehen Hand in Hand mit dem Widerstand gegen die Politik der Koalition in der Eurozone.
- Zum Euro
Fortschrittliche deutsche Kandidat*innen läuten bereits die Alarmglocken quer durch die Bundesrepublik, um die Wähler*innen vor einer groben und gefährlichen Unwahrheit zu warnen: der Vorstellung, Deutschland sei gut durch die Eurokrise gekommen und seine Führung habe die europäischen Herden in dieser Zeit wohlbehalten und klug geleitet. Aus einem einfachen Grund: genau das Gegenteil war der Fall. Als Ergebnis der Krise ist Deutschland viel schwächer und Europas Auflösungsprozess in einem fortgeschritteneren Stadium genau wegen der Führungsfehler der deutschen Regierung bei der europäischen Sozialwirtschaft und ihren Ressourcen.
Ja, es ist wahr, dass die Krise dem Bund einen großen Gewinn beschwert hat (durch das massive Niederhalten von Zinsraten um Deutschlands Schulden zu verringern) und einen riesigen Kapitalzufluss bei den Frankfurter Banken (durch die Kapitalflucht aus schwächeren Wirtschaften, und der Furcht ihrer Bürger*innen vor Grexit, Italexit etc.). Aber diese Gewinne sind ein Zeichen von Schwäche, nicht Stärke. Sie sind ein Zeichen von aktuellen und künftigen Belastungen für die Mehrheit der Deutschen. Dass die deutsche Führungsschicht sie als Beleg wirtschaftlicher Gesundheit feiert, setzt der Sache die Krone auf.
Wenn ein Land wie Deutschland den niedrigsten Stand von Investitionen (in Prozent des Volkseinkommens) meldet in einer Zeit, in der Investoren ihre Regierung für Kreditaufnahmen bezahlen und die Rücklagen den höchsten Stand in der Geschichte des Landes erreichen…
Wenn die Eliten dieses Landes darauf bestehen, dass die vielen verschiedenen Überschüsse aufrechterhalten werden müssen durch weitere Lohneinsparungen bei der ausgequetschten deutschen Arbeiterklasse, auch als Druckmittel gegen die französische und italienische Arbeiterklasse und Ausrede für die Regierungen Frankreichs und Italiens, jeweils ihre Arbeiter*innen auszuquetschen…
Wenn in einem Land wie Deutschland jeder spart (Regierungen, Familien und Firmen sparen mehr als sie ausgeben/investieren) und dann gezwungen werden, ihre schwer verdienten Ersparnisse anderen Ländern anzuvertrauen, die dann mit Hilfe von Sparpolitik und Drohungen kontrolliert werden müssen…
Wenn ein alterndes Land, welches eigentlich für seine Zukunft vorsorgen sollte, eine Wirtschaft hervorbringt, die die Zinsraten ins Minus schiebt und damit die eigenen Ersparnisse dezimiert…
Wenn all das passiert, ist klar, dass das betreffende Land Probleme hat.
Wir rufen fortschrittliche Kandidat*innen zur Bundestagswahl auf:
Machen Sie deutschen Wähler*innen den grundlegenden Punkt bewusst:
Das ist unser aller gemeinsame Sache! Kein Land ist vor der Krise gefeit. Deutschland kann sich nicht auf seinen Überschüssen ausruhen, ohne seine Arbeitnehmer und seine Altersversorgung zu ruinieren. Wenn das Gleichgewicht unserer Währungsunion erheblich gestört ist, wird die Not von allen schwächeren Bürger*innen überall getragen – egal, ob sie in einem Land des Überschusses oder des Defizits leben.
- Zum Europäischen New Deal
Weil das alles unsere gemeinsame Sache ist, weil es keine Lösung für Italiens oder Griechenlands Probleme geben kann, die nicht auch ein Ende für deutsche Minijobs, ‘Uberisation’, Unterinvestition etc. beinhaltet, braucht Deutschland einen Europäischen New Deal.
Bisher ist die Mehrheit der Deutschen überzeugt, dass ein Europäischer New Deal bedeutet, Deutschland zahlt für den Rest von Europa. Wenn sie denken, Deutschland sei reich, aber nicht reich genug dafür, haben sie recht. Sie haben nicht recht, wenn sie glauben, ein Europäischer New Deal bedeutet, dass deutsche Steuerzahler mehr zahlen müssen um die Sozialfürsorge, Investitionsprojekte und Bankensysteme für den Rest Europas zu finanzieren. Um das zu veranschaulichen und die Schritte dahin, hat DiEM25 sein ‚Europäischer New Deal‚ Papier entwickelt.
Wir rufen fortschrittliche Kandidat*innen zur Bundestagswahl auf:
Initiieren Sie eine große soziale, politische und kulturelle Debatte zur Idee eines Europäischen New Deal, und benutzen Sie unser ‘Europäischer New Deal’ Strategiepapier als Grundstruktur für diese Umgestaltung.
- Zur europäischen Demokratie
Die meisten Deutschen möchten Teil eines demokratischen Europas sein. Aber gleichzeitig fürchten die meisten deutschen Bürger*innen, dass sie sich den Preis für eine demokratische EU, der von ihrem Land erwartet wird – wie reich es auch sein mag – nicht leisten können.
Mit seinem New Deal für Europa sieht DiEM25 das keineswegs so! In Wirklichkeit ist der Preis für den Mangel an funktionierender Demokratie auf EU-Ebene, den die Mehrheit der Deutschen heute zahlt, hoch und darüber hinaus verschwendet. Um mit unserem New Deal für Europa über die Politik von Angst und Hoffnungslosigkeit hinaus zu kommen, sollten Deutschlands Progressive auch die Idee einer verfassungsgebenden Versammlung diskutieren, die das Manifest von DiEM25 vorsieht. Damit kann ein breiter sozialer, politischer und kultureller Prozess zu einer ordentlichen demokratischen europäischen Verfassung geöffnet werden.
Wir rufen fortschrittliche Kandidat*innen zur Bundestagswahl auf:
Eröffnen Sie die Diskussion über die Idee eines Prozesses hin zu einer europäischen verfassungsgebenden Versammlung und über eine demokratische europäische Verfassung.
- Zum grünen Wandel
Deutschlands Regierungen und Industrie haben große Schritte bei der Herstellung und Förderung erneuerbarer Energien, Recycling und generell ‘grünen’ Verfahren unternommen. Aber der Schlüssel zum grünen Wandel, den Europa und der Planet benötigen, sind massive Investitionen. Und massive Investitionen in grüne Technologien und Zukunftsprozesse sind unmöglich jenseits der makrofinanziellen Strukturen der Agenda des New Deal für Europa, wie sie DiEM25 zusammenfasst.
Wir rufen fortschrittliche Kandidat*innen zur Bundestagswahl auf:
Vertiefen und erweitern Sie Ihr Engagement für den sozial-ökologischen Wandel, indem Sie eine Agenda stärken, die das Ende der Sparpolitik, die Finanzregulierung und grüne Investitionspolitik vereint und deshalb als Struktur dieses Wandels dienen kann.
- Zu technologischer Unabhängigkeit
Die deutsche Industrie ist stolz auf ihre technologische Fortschrittlichkeit. Wenn es allerdings um Digitaltechnologien geht, sind Deutschlands Firmen, Gesellschaft und Regierung trotz ihrer industriellen Expertise in einer Weise abhängig von Silicon Valley, die die technologische Unabhängigkeit schädigt.
Wir rufen fortschrittliche Kandidat*innen zur Bundestagswahl auf:
Legen Sie Ihren Wähler*innen dar, dass Europas technologische Zukunft nicht deutschen und amerikanischen Multis überlassen werden darf. Unsere Wirtschaft und tatsächlich auch unsere Demokratien sind angewiesen auf die Entwicklung von Open Source Produkten, die unsere Produktivität und unsere Kooperationsfähigkeit steigern, ohne dass uns die neuesten Formen von Weltmonopolen ausbeuten.
- Zu Flüchtlingen und Migration
Kanzlerin Merkels anfängliche positive Reaktion auf den Andrang syrischer Flüchtlinge im Sommer 2015 wurde diffamiert und herabgewürdigt als spontaner Fehler. Dass sie gegenüber der ‘Realpolitik’ kapitulierte und später den jämmerlichen Vertrag mit dem türkischen Präsident schloss, hat eine nationalistische und rassistische Wende quer durch die deutschen Institutionen vervollständigt.
Aber die Zivilgesellschaft wehrt sich dagegen. Ihr Widerstand muss gefeiert und bestärkt werden!
Wir rufen fortschrittliche Kandidat*innen zur Bundestagswahl auf:
Stellen Sie Frau Merkel zur Rede wegen ihres Verrats an ihrem anfänglichen Instinkt, die Flüchtlinge willkommen zu heißen. Bestärken Sie handfeste Strategien, die diesem Geist treu sind und in Europa einen vernünftigen, menschlichen und realistischen Lösungsansatz verbreiten – nicht nur gegenüber Flüchtlingen, auch gegenüber Wirtschaftsmigrant*innen. Setzen Sie sich dafür ein, dass der Flüchtlingsdeal EU-Türkei beendet wird.
- Zum Erhalt des Friedens
Kanzlerin Merkel verkündete nach dem jüngsten Treffen mit Präsident Trump, dass Europa seine Zukunft in die Hand nehmen und sich zu seiner Verteidigung nicht mehr “auf die Freundlichkeit Fremder verlassen” solle. Das ist richtig. Aber Achtung, Progressive: Wie benötigen keinen europäischen Ersatz für die NATO. Wir wollen keinen europäischen Pakt, der überall Kriegslust und Waffen verbreitet. Wir wollen keine weitere schmähliche europäische Intervention wie in Libyen 2011. Wir wollen keine weitere europäische Drohung, die Putin mehr Ausreden verschafft, gegen russische Demokrat*innen vorzugehen.
Wir rufen fortschrittliche Kandidat*innen zur Bundestagswahl auf:
Verlangen Sie, wie viele Fortschrittliche das bereits tun, dass der Verkauf von Waffen an repressive Regierungen eingestellt wird. Mit seinem Anstieg des weltweiten Waffenhandels um 7 % auf 4.03 Milliarden in der ersten Jahreshälfte 2016 ist Deutschland verantwortlich für Konflikte in aller Welt. Mit Waffenverkäufen an die Türkei, Saudi Arabien, die Vereinigten Emirate, Algerien und weitere Länder ist Deutschland direkter Förderer von Kriegen und repressiven Regimes, deren Folgen Migration und Flüchtlingskrisen sind.
Kämpfen Sie für ein internationalistisches Europa, das Nichteuropäer als gleichwertig achtet. Für ein friedliches Europa, das sich mit allen Mitteln um Deeskalation im Osten und rund um das Mittelmeer bemüht, als Bollwerk gegen Militarismus und Expansionismus steht und sein Engagement durch Einstellung des Waffenhandels unter Beweis stellt. Für ein offenes Europa, das Ideen, Menschen und Inspiration aus der ganzen Welt aufnimmt, Zäune und Grenzen als Zeichen der Schwäche versteht, die Unsicherheit im Namen von Sicherheit verbreiten. Für ein Europa, das endlich seine Verantwortung für die historischen Verbrechen von Kolonialismus und Imperialismus anerkennt. Für ein emanzipiertes Europa, das von Privilegien, Vorurteilen, Entrechtung und Gewaltandrohung Abstand nimmt, allen in Europa freiere Rollenentwicklung erlaubt, die Entfaltung ihres Potenzials genießen lässt und die Freiheit der Wahl ihrer Partner*innen im Leben, der Arbeit und in der Gesellschaft ermöglicht.
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