Nirgends zeigt sich der moralische Zeigefinger deutlicher als in Deutschlands Vorliebe, sich selbst in glorreichen Superlativen an der Spitze weltweiter Tugendhaftigkeit zu verorten
Eine nahe Verwandte von mir (keine Deutsche, aber seit über 40 Jahren hier) meinte einmal mit einem Seufzen: „Es gibt nichts Unerträglicheres als einen Deutschen, der Recht hat.“ Auch wenn damit natürlich nicht alle Deutschen – vielleicht nicht einmal die Mehrheit – gemeint sind, verkörpert dieser Satz für mich als Deutsch-Griechin diese typisch deutsche Mischung aus Regelhörigkeit, Prinzipientreue und manchmal geradezu zwanghafter Detailverliebtheit. Gern werden andere, die durchs Raster dieser hehren Ansprüche fallen, mit dem berühmten erhobenen Zeigefinger an ihre moralische oder geistige Unterlegenheit erinnert. Dass die strahlende deutsche Selbstbeweihräucherung dabei viele, dieser Tage riesige Schatten wirft, wird im öffentlichen Diskurs gern übersehen. Davon soll hier die Rede sein.
Die deutsche Schmierkampagne gegen Griechenland
Vor genau zehn Jahren hatte ich mein erstes Aha-Erlebnis dieser Art: 2015 fand sich Yanis Varoufakis, frisch gebackener griechischer Finanzminister, per Livestream bei Günther Jauch wieder. Manche werden sich erinnern. Im Mittelpunkt der Sendung stand indes nicht seine politische und ökonomische Expertise, sondern ein angeblicher Vorfall, bei dem er Deutschland auf einem „subversiven Festival“ in Zagreb den Stinkefinger gezeigt haben soll.
Wie konnte er es wagen? Schließlich hatte der tugendhafte, hart arbeitende deutsche Steuerzahler doch bereits Millionen in die Kassen dieser faulen Griechen gepumpt, die sich untätig in der Sonne sonnten und dem Ouzo frönten, statt die von ihnen erwartete protestantische Arbeitsmoral zu befolgen. Varoufakis jedenfalls wies die Anschuldigung zurück und bestand darauf, dass das Video manipuliert worden sei. Experten, inklusive Jauchs erlesener Gästerunde, entgegneten prompt, dies sei technisch unmöglich. Tagelang empörte sich der kleinbürgerliche deutsche Geist im Netz und in den Medien über diesen Affront. Undankbares griechisches Pack.
Bis schließlich Jan Böhmermanns satirisches Meisterwerk „Varoufake“ die Gewissheit der Moralapostel ad absurdum trieb. In seinem Neo-Magazine-Royal-Clip behauptete er, das Video selbst gefälscht zu haben, präsentierte dem amüsierten Publikum ein Varoufakis-Double im grünen Screen-Coat, der in einer Endlosschleife Stinkefingerbewegungen machen musste und ließ seinen IT-Experten demonstrieren, wie leicht sich der berüchtigte Stinkefinger auf dem Video durch copy-paste und motion blur wahlweise in einen Zeigefinger oder eine offene Hand verwandeln ließ. Und am Ende das geilste Resume ever: Die Deutschen. Zweimal Europa in Schutt und Asche gelegt, aber drehen durch, wenn man ihnen den Stinkefinger zeigt. Er schließt süffisant: “Ihr habt das Video nicht gefälscht. Ihr habt es nur aus dem Zusammenhang gerissen und einen griechischen Politiker am Stinkefinger durchs Studio gezogen, damit sich Mutti und Vati abends nach dem Tatort nochmal schön aufregen können. Der Ausländer. Raus aus Europa mit dem. Er ist arm und nimmt uns Deutschen das Geld weg. Das gibts doch wohl gar nicht! Wir sind hier die Chefs! So, das habt ihr gemacht. Der Rest ist von uns.”
Schon damals musste ich ungläubig den Kopf schütteln über das, was ich heute als gefährliche Mischung aus tiefer, rassistischer Überheblichkeit und neokolonialer Arroganz empfinde. Es war der Höhepunkt der Hetzkampagne der Bild-Zeitung gegen Griechenland, als deutsche Mainstream-Zeitungen voller Verachtung und Geringschätzung auf das südosteuropäische Land blickten.
Begonnen hatte alles mit einem Leitartikel im Fokus mit dem Titel: „2000 Jahre Niedergang: Von der Wiege Europas zum Hinterhof Europas“, verfasst bereits 2010 von Michael Klonovsky, der später Pressesprecher der AfD wurde. Der Artikel beginnt mit einer Lobeshymne auf das antike Griechenland, nur um sein modernes Counterfeit brutal zu demontieren. Laut Klonovsky hätten die heutigen Griechen nichts außer fettigem Essen, einem einzigen Opernhaus und seien völlig unfähig, selbst einfache Ingenieurleistungen zu vollbringen. Er veranschaulicht das am Beispiel eines Tunnelbauprojekts, bei dem sich die Arbeiter auf beiden Seiten um ganze 35 Meter verfehlen. Seine Schlussfolgerung: Das moderne Griechenland hat keine Kultur, keine Kompetenz und schon gar keine Größe mehr.
Klonovsky stützt seine Argumentation dabei unverhohlen auf rassistische Pseudowissenschaft. Erst zitiert er Jakob Philipp Fallmerayer, einen Historiker des 19. Jahrhunderts, der behauptete, die modernen Griechen seien mitnichten Nachfahren der glorreichen Hellenen, sondern „slawische Unholde“. “Kein Tropfen Heldenblut” fließe in ihren Adern. Rassismus in Reinstform. Und danach lässt er auch noch Oswald Spengler zu Wort kommen, dessen zyklisches Geschichtsverständnis er bemüht, um Griechenland als Zivilisation im unvermeidbaren Niedergang zu stilisieren – ein „Verlierer“ im historischen Wettlauf, während Deutschland und der Westen als die rechtmäßigen Erben der europäischen Zivilisation glorifiziert werden.
Es war für mich das erste Mal, dass ich als Kind eines deutschen Vaters und einer griechischen Mutter geschockt war – Zyniker und Realisten mögen mir zurecht vorwerfen, dass ich vorher in meiner gutbürgerlichen, linken Wohlfühlblase gelebt habe.
Im selben Jahr gab ich an der Uni mein erstes Seminar zur deutschen Medienschlammschlacht gegen Griechenland. Meine Studies waren schon damals messerschaft in der Dekonstruktion dieser rassistischen Manipulation. Sie waren und sind meine große Hoffnung, dass zumindest immer weniger jüngere Leute diesen abwertenden und ausgrenzenden Narrativen auf den Leim gehen. Aber ist das wirklich so? Dieser Tage, im Oktober 2024, zerbreche ich mir darüber den Kopf. Der geneigte Leser würde sagen: Ja, eh klar. Studies sind doch eher inklusiv und Bildzeitungs- und Fokusleser eher reaktionär. Es gibt halt immer solche und solche und das wird sich nie ändern. Früher hätte man pauschal vom rechten und linken Lager gesprochen, heute würde man sie vielleicht mit David Goodhart die Anywheres und die Somewheres nennen. Er versteht sie als zwei Enden eines Kontinuums zwischen Lokalpatrioten, die eben eher national denken und othern und interkulturellen Internationalisten, die sich jenseits nationaler Grenzen, Sprachen und Systeme bewegen und definieren. Viele sagen, dass die Bruchlinien zwischen beiden größer werden und die graue Masse dazwischen sich verunsichert der einen oder anderen Seite anschließt. Politische Polarisierung heißt das dann.
Es gibt auch deutlich optimistischere Analysen. Wie die von Aladin El-Mafaalani´s, der in seinem super populären Buch “Das Integrationsparadox“ argumentiert, dass der zunehmende Widerstand gegen Vielfalt und Inklusion kein Zeichen des Scheiterns ist, sondern vielmehr zeigt, dass Integration funktioniert, weil unsere Gesellschaft tatsächlich viel interkultureller geworden ist: Je offener und diverser die Gesellschaft wird, desto stärker, so sagt er, formiert sich eine Gegenreaktion – paradoxerweise sozusagen als Begleiterscheinung ihres Fortschritts. Ausgrenzung- und Hetzkampagnen gegen andere Länder, wie die der Bild-Zeitung oder der gegenwärtige Aufstieg der AfD wären aus dieser Sicht tatsächlich nur re-aktionäre Impulse gegen eine grundsätzlich zusammenwachsende Welt. Ich habe sein Buch damals mit großer Begeisterung gelesen.
Heute denke ich: Schön wär´s. Bei uns und in vielen anderen Ländern sind die Identitätspopulisten auf dem Vormarsch und ihre Wählerschaft speist sich aus dem Linken (siehe BSW), dem konservativen und dem rechtsextremen Lager (siehe Höcke). Und die, die von diesem Lager als die Ökos und Willkommensgutmenschen, als die “Linksgrün-Versifften” geschimpft werden – also ein Großteil unserer aktuellen Regierung – mögen sich zwar jener innenpolitischen Errungenschaften in Sachen Multikulti und Genderdiversität rühmen. Innenpolitisch sind sie aber gerade für Deutschlands wirtschaftlichen Abschwung und außenpolitisch für eine brandgefährliche und noch dazu tief rassistische Eskalationspolitik verantwortlich. Und das alles immer mit Verweis auf hohe Werte und Tugenden.
Der moralische Zeigefinger heute: Von der Ukraine nach Gaza
Wir lieben es, uns mit Superlativen zu schmücken. Wir feiern uns zum Beispiel stolz als Exportweltmeister. Was dabei gern, auch von den “Linken” übersehen wird: Deutschland profitiert auf Kosten seiner europäischen Nachbarn, häuft Handelsüberschüsse an und gönnt sich dann den Luxus, Südeuropa als „faul“ zu brandmarken, wenn dort die Wirtschaft kriselt.
Außerdem sind wir davon überzeugt, wie kein anderes Land unsere dunkle Geschichte aufgearbeitet zu haben. Allen voran unsere Geschichtsbücher, Museen, wie die Topographie des Terrors, das Holocaust-Mahnmal in Berlins Mitte, unzähliche ARTE-Dokus, preisgekränte Kinofilme und ZDF-Mehrteiler, unsere über das ganze Land gesähten Stolpersteine und die wiederkehrenden Reden der Gedenktage: In der Tat heben wir uns in beeidruckender Weise von der teils chauvinistisch-revisionistischen Erinnerunngskultur vieler anderer Länder ab, die ihre Schandtaten unter den Teppich gekehrt haben.
Dazu kommt noch die “zweite” deutsche Erinnerung an die DDR, in der sich die alten Bundesländer als Sieger der Geschichte, als Repräsentanten des “besseren” Systems gleich doppelt von der Vergangenheit distanzieren können. Nicht ohne einen Hauch Ironie hat die wunderbare Historikerin Aleida Assmann Deutschland deshalb als Erinnerungsweltmeister bezeichnet und dabei zurecht die selbstkritische Frage aufgeworfen, ob insbesondere unsere Holocaust-Erinnerung nicht doch in weiten Teilen zur selbstinzenierenden Routine verkommen ist.
Das Buch ist von 2020. Vier Jahre später, drei Jahre nach Beginn des Ukrainekrieges und ein Jahr nach Beginn des Genozids in Gaza und angesichts Deutschlands kreuzritterischer Positionierung auf der Seite des Lichts gegen die Mächte der Finsternis drängt sich mit nur dieser eine Schluss auf: Gerade vor dem Hintergrund des erschreckenden Rechtsrucks mit seinem gegenwärtigen Höhepunkt, dem Wahlsieg der rechtsextremen, thüringischen AfD, wäre ein wahrhaft selbstkritischer Blick in die Geschichte menschlicher Abgründe notwendiger denn je.
Was aber passiert tatsächlich? Die deutsche Außenpolitik der letzten zweieinhalb Jahre zeigt, dass Konservative und tragischerweise besonders die “Linken”, die sich so stolz rühmen, sich am weitesten von ihrer düsteren Vergangenheit distanziert haben, zu Kriegstreibern, Frontenverhärtern und in Nahost Komplizen einer rassistischen und noch dazu extrem riskanten Konfrontationspolitik geworden sind.
Selbstverständlich ist das nicht neu. Nicht erst seit der Wiedervereinigung unterstützt Deutschland als Juniorpartner von Big Brother neokoloniale Unternehmungen. Früher gab es aber wenigstens noch Widerstand – gegen den Irakkrieg oder den Afghanistan-Einsatz. Heute? Ein selbstgerechter Konsens, der jede Opposition erstickt und mächtige Narrative bemüht: Scholz spricht im Ukraine-Krieg von einer “Zeitenwende”, von der Leyen vom Kampf um „europäische Werte“, der Verteidigung von Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und Frieden gegen die Imperialisten und Autokraten, die ihre eigene Bevölkerung drangsalieren. Schöne Inszenierung, tragische Folgen.
Deutschland steckt nun 100 Milliarden in die Bundeswehr, statt in seine bitter nötige soziale und ökologische Infrastruktur und ist mit über 27 Milliarden der größte Waffenlieferant in der EU an die Ukraine. Zusammen mit seiner Kalte-Krieg-Rhetorik, die die Herzen der alten, weißen Männer und ihrer Transatlantikagenda in den Ministerien, Akademien und der Rüstungsindustrie aufleben lassen (“Ich wusste es schon damals!”), ist unser schönes Land jetzt Hauptakteur in der Konsolidierung neuer, alter Fronten in Europa und mitverantwortlich dafür, dass der Krieg in der Ukraine eskalierte und bis heute andauert, mit hunderttausenden Toten auf beiden Seiten. So sehe ich das. So sieht es DIEM25. Aber so sieht es unter etlichen anderen auch Harald Kujat, ehemals ranghöchster NATO-General und Generalinspekteur der Bundeswehr – einer, der es wissen muss, würde man doch sagen und keiner, den man so unmittelbar einem links-pazifistischen Lager zuordnen würde. Ich meine damals, als die Linken noch Pazifisten waren. Dieser Krieg – das hat er mehrfach unter Bezug auf die gescheiterten Verhandlungen in Istanbul im März 2022 betont – hätte verhindert werden können, wäre der Westen bereit gewesen, auf die russischen Garantieforderungen in Sachen Ukraineneutralität einzugehen. Aber das war offensichtlich nicht gewünscht.
Kujat, wie auch andere teils prominente Kritiker der Regierungslinie, werden nicht mehr in Prime-Time-Talkshows eingeladen und veröffentlichen ihre Standpunkte in alternativen Social-Media-Kanälen. Interessante Entwicklungen für unsere lupenreine Demokratie. Richard-David Precht und Harald Welzer hatten 2022 ein Buch dazu veröffentlicht. In Die Vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist argumentieren Precht und Welzer, dass Medien zunehmend einem „Cursor der Mehrheitsmeinung“ folgen, um Klickzahlen und Publikumserfolg zu maximieren, wodurch sie sich selbst inhaltlich angleichen und die Vielfalt demokratischer Debatten einschränken. Ihr Hauptfallbeispiel war die Berichterstattung zur Ukraine. Ich fand die Analyse sehr treffend, um zu verstehen, warum urplötzlich alle unsere Leitmedien sich in der Inszenierung der Notwendigkeit übertrafen, einen neuen kalten Krieg einzuleiten, warum in Talkshows immer ein Kritiker der Regierungslinie gegen drei Befürworter antreten musste und dann noch als “Putinversteher” gebrandmarkt wurde (ich habe mich schon damals gefragt, was daran schlecht sein soll).
Die Folgen der moralischen Inszenierung jedenfalls sind für Deutschland selbst katastrophal: Die Sanktionen gegen Russland haben nicht nur die Energiekosten explodieren lassen. Wir beziehen jetzt schön super teures Flüssiggas aus Katar und Fracking-Gas aus den USA. Umweltfreundlich und effizient. Und während Europa in die Bedeutungslosigkeit driftet, wächst die Partnerschaft zwischen Russland und China. Super gelaufen, Deutschland! Aber kein Preis ist zu hoch, damit wir Deutschen auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Der wunderbare Michael Lüders nennt uns deshalb so treffend „Moralweltmeister“ und macht damit die glorreiche Triade aus Export- und Erinnerungsweltmeister perfekt.
Seit Oktober 2023 ist die moralische Fassade Deutschlands vollends zusammengebrochen. Zehntausende ermordete Palästinenser – praktisch im livestream unter den Augen der Weltöffentlichkeit, darunter die meisten Frauen und Kinder – zerfetzt im KI-gesteuerten Bombenhagel US-amerikanischer High-End-Technologie und getroffen von deutscher Panzermunition, elendig verendet an heilbaren Krankheiten und Verletzungen und den Folgen von Unter- und Mangelernährung. Das alles taucht in deutschen Medien allenfalls als Statistik auf, während uns weise Expertenrunden bei Maischberger und Lanz den Tod der Zivilisten als bedauerlichen, doch unvermeidbaren „Kollateralschäden“ eines grundgerechten Krieges erklären. Keine Rede vom historischen Kontext, der routinierten Diskriminierung, Entrechtung und Enteignung von Palästinensern in der Westbank und Gaza, keine Rede oder völlige diskursive Entstellung der Nakba, der zahllosen UN-Resolutionen und der jüngsten UN-Gerichtsentscheidungen. Pro-palästinensischen Demonstrationen wird teils mit brutaler Polizeigewalt begegnet, Kritik an der deutschen Israelpolitik pauschal als antismeitisch gebrandmarkt, insbesondere Kritik von Muslimen auf deren vermeintlich historischen Juden- und Israelhass zurückgeführt – perfekte Projektion der eigenen Schuld, wie our very own Yanis Varoufakis zurecht sagt.
Mit der bedingungslosen Unterstützung Israels beteiligt sich Deutschland an der crime of crimes, dem Genozid an den Palästinensern und einem sich bereits jetzt ausweitenden Flächenbrand in der Region, in der ein inzwischen völlig verrückt gewordener Netanjahu mit militärischer Agression und fantastischen Drohgebärden um sich schlägt, weil er weiß, dass er damit durchkommt.
Und die Hexenjagd auf Andersdenkende im eigenen Land – schon in milderer Form beim Thema Russland sichtbar – hat inzwischen aberwitzige Züge angenommen. Nachdem selbst Dieter Hallervorden und Kaja Yanar shitstorms für Ihre mutige Positionierung ernteten, trat jüngst selbst Richard David Precht, nachdem er im Ukrainekrieg so mutig Stellung bezogen hatte, ins tragische Spiel der Realitätsverzerrung.
Viele nennen ihn Deutschlands bekanntesten Philosophen. Sein intellektuelles Oeuvre ist mit zahlreichen dicken Bänden zur Philosophie, die Jahrhunderte Weltgeschichte umspannt, in der Tat beeindruckend, auch wenn sein Hang zum Mansplaining das Bild manchmal erheblich trübt. Nach einer in der Tat höchst unglücklichen Bemerkung darüber, was orthodoxe Juden arbeiten dürfen, verlor er in diesem Jahr seine Honorarprofessur und muss sich Antisemitismusvorwürfen stellen. Vor ein paar Wochen saß er bei Thilo Jung (Jung & Naiv) und kommentierte, wie auch schon die Jahre zuvor, deutsche Politik und Gesellschaft. Er bemühte dabei in alter Manier gern historische Vergleiche und philosophische Konzepte. Dazu zählt der Universalismus, als dessen glühender Verfechter er sich versteht – das Verständnis, dass grundlegende Werte, Rechte oder Prinzipien jenseits von Raum und Zeit entweder für alle Menschen gelten oder das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen. Soweit, so gut. Relativ am Ende der mehrstündigen Sendung kommt dann das Thema Gaza. Man merkt Precht an, dass er dazu nichts sagen will. Thilo spricht die deutsche Sonderrolle in der uneingeschränkten Unterstützung Israels an, die breite Kritik, die sie im globalen Süden hervorgerufen hat und die vom Internationalen Gerichtshof eingeräumte Plausibilität eines Genozids. Ja, ja, alles richtig, winkt Precht ab. Aber es sei doch nur verständlich und geboten, dass sich Deutschland mit Kritik zurückhalte aufgrund seiner Geschichte. Dann sei er also doch kein Universalist, entgegnet Thilo zurecht. Und der ansonsten so eloquente, wortgewaltige, nie um eine pointierte Antwort verlegene Precht endet kleinlaut, das sei eben eine Ausnahme und man würde auch keine weitere bei ihm finden. Ich war sprachlos. Ein Ausnahme vom Universalismus. So, so. Also von der Überzeugung, dass die ganz grundlegenden Normen menschlichen Miteinanders nur ausnahmslos Geltung für sich beanspruchen dürfen. Das wäre in etwa so, als würde man sagen: Alle Kreise sind rund, nur dieser eine, der hat eine Ecke. Ist aber auch nur der eine. Also, was soll die Aufregung?
Was daran so erschütternd ist: Gaza wird zweifellos in die Geschichte eingehen als tragischer Höhepunkt der neokolonialen und rassistischen Doppelmoral des (untergehenden) Westens im digitalen Zeitalter – als Genozid-Livestream, der nur dadurch funktioniert, dass Leid und Leben des einen als mehr und das des anderen als weniger bzw. als garnichts wert betrachtet wird. Und unser Land ist, wenn ich ein wenig metaphorisch werden darf, der Sauerteig in diesem toxischen Gärprozess. Oder anders: Mal wieder mit wehenden Fahnen an vorderster Front auf dem Weg in die Katastrophe.
Ein Hoffnungsschimmer für unsere Gesellschaft ist immerhin, dass die pro-palästinensischen Proteste nicht abreißen und sich Wissenschaftler, Künstler und andere namhafte Personen gegen die Kriminalisierung und Verzerrung ihrer Solidarität zur Wehr setzen. Es scheinen die lauten und mutigen Stimmen einer stillen Mehrheit zu sein, die – so belegen es weiterhin die Meinungsforschungsstatistiken – der israelischen Politik und der deutschen Haltung zumindest mit Skepsis begegnen.
Und jetzt? Statt vereint als globaler Akteur gegen die großen transnationalen Herausforderungen, gegen Kriege, Klimawandel und Armut zu kämpfen, ist Europa unter dem Druck der Finanz- und Migrationskrisen zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West und zwischen Arm und Reich immer weiter zerfallen. Milliarden fließen in die Militarisierung und in die Abschottung Europas, während Deutschland an seinen “gerechten” Kriegen festhält und von einer Zeitenwende faselt, die es selbst mit herbeiführt. Statt als unabhängiger Akteur Einfluss auf die Weltbühne zu nehmen, mutiert Europa zum Statisten US-amerikanischer Interessen. Das laute Schweigen um Nordstream 2 ist dabei schlicht nur noch peinlich. Es ist, als ob man seine geopolitische Rolle kampflos gegen eine Marionettenexistenz eingetauscht hätte. Nicht zuletzt der jüngste BRICS-Gipfel und die Kooperationen und Wirtschaftsleistungen seiner Mitgliedsländer zeigen, dass sich die geopolitischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse zugunsten des Globalen Südens verschieben und damit auch die moralische Deutungshoheit. Ob das eine bessere Welt bringt, bleibt ungewiss. Aber vielleicht lernt der Westen so endlich eine Prise Demut und Selbstkritik – zwei Tugenden, die ihm bislang allzu oft abhanden kamen.
Original auf Englisch erschienen, deutsche, leicht abgewandelte Übersetzung der Autorin
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