Die Mitte in der Krise

Ein Kommentar von Johannes Fehr (Vorstand DEMOKRATIE IN EUROPA) und David Schwertgen (Bundeskollektiv DiEM25)
Mitglieder unserer Bewegung vergleichen die derzeitige Weltlage gerne mit der Situation in den 1930er-Jahren. Yanis Varoufakis hat schon oft auf die Parallelen, in Zusammenhang mit dem Aufstieg rechtsextremer Parteien und der hohen Arbeitslosigkeit in der gesamten Eurozone, hingewiesen.
„Die Gesellschaft fragmentiert, Faschismus und Rassismus blühen auf.“, warnte er z.B. im Mai 2019 in Deutschlandfunk Nova.
Tatsächlich sind auch genau vor hundert Jahren – im Jahre 1920 – ein paar Dinge passiert, die uns beunruhigend bekannt vorkommen: Der Reichsminister der Finanzen Matthias Erzberger wird am 26.1.1920 Opfer eines Attentats eines von rechter Hasspropaganda aufgehetzten jungen Offiziers. Er überlebt knapp, der Attentäter Oltwig von Hirschfeld kommt mit 18 Monaten Gefängnis davon. Die rechtskonservative Presse kann sich Häme kaum verkneifen. Auch die Hohenzollern ringen schon mit dem Staat um ihren Besitz und selbst ein Mietendeckel (damals Parteilinie der SPD) hält die Hausbesitzer in Atem.
Das alles muss keinesfalls bedeuten, dass sich die Geschichte nun „als Farce“ wiederholt, es lohnt aber trotzdem sich vor Augen zu führen wie wenig modern, postideologisch und entpolitisiert unsere Gegenwart ist und wie wenig überholt die Vergangenheit.
Nachdem der FDP-Politiker Kemmerich am 5.2.2020 mithilfe der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden ist, überschlugen sich auch die etablierten Medien mit empörten Beiträgen: „Der 5. Februar 2020 geht als der Tag in die Historie ein, an dem die AfD zum ersten Mal einem Politiker in einem deutschen Parlament zur Macht verholfen hat.“, sagt Rechteextremismusforscher Matthias Quent in einem Interview mit der Schweriner Volkszeitung.
Guy Verhofstadt, sonst mit einem dicken Fell gesegnet, wenn es um „confidence and supply“-Deals von Mitgliedern seiner ALDE-Fraktion mit Neofrankisten ging, geht gleich auf Ganze:
Guy Verhofstadt tweet
Der Sachverhalt stimmt schon: Statt zu zeigen, dass eine Regierung mit Unterstützung der Rechten keine Option ist, haben die Liberalen und Konservativen diese gestern demütig entgegengenommen. Die AfD ist damit in einer strategisch günstigen Position. Sie zeigen den eigenen Wähler*innen Bereitschaft, „Verantwortung zu übernehmen“ und können trotzdem weiter mit harter Oppositionspolitik punkten.
Georg Diez möchte CDU und FDP allerdings nicht so leicht aus der Verantwortung entlassen und zieht folgende Bilanz:

Das Erstarken der Rechten ist in ganz Europa zu beobachten und es ist mit einer zunehmenden Angst der Menschen vor der Zukunft verbunden. Die Medien schüren die Angst vor einer zunehmenden Migration. Der Klimawandel stellt unsere Lebensweise in Frage. Die Macht der internationalen Konzerne und der Finanzwelt hat in unserem globalisierten Wirtschaftssystem überhandgenommen. Und unsere nationalen Demokratien scheinen den Herausforderungen nicht gewachsen zu sein. Von den daraus entstehenden Ängsten profitieren die Rechten.
Die bürgerliche Mitte hat keine Antworten auf die ideologischen Wiedergänger, außer den moralischen Zeigefinger zu heben und reflexhaft kurz aufzuwachen, wenn ein Politiker ermordet, eine Synagoge überfallen oder ein Waffenlager gefunden wird. Danach muss dann aber auch schnell wieder gut sein. Denn: ändern möchte man ja eigentlich nichts. Lieber wird die berühmte Hufeisentheorie bemüht: Links und Rechts nehmen sich nichts, es gibt nur zwei große Kräfte: Gemäßigte und Extremistische.
Die Grünen-Politikerin Marina Weisband bringt es auf den Punkt:

Die neoliberale Erzählung vom „Ende der Geschichte“, die Losung „There Is No Alternative“, der normative, liberale Zentrismus, sie haben uns in den letzten zwanzig Jahren vergessen lassen, das Politik ein Kampfplatz der Interessengruppe ist und kein Mittel zum Zweck um „unangenehme, aber objektiv richtige Entscheidungen“ durchzusetzen.
Wir müssen den Begriff der politischen Mitte beerdigen, denn immer weniger Menschen fühlen sich diesem ohnehin schwammigen Konstrukt zugehörig. Der AfD fällt es einfach, die ewig von Mäßigung und Eigenverantwortung und bürgerlichen Freiheiten predigenden Kolleg*innen und ihre „Lügenpresse“ zu verhöhnen. Nicht nur ihre Wähler*innen ahnen dumpf, dass sich da ein tiefer Graben durch die Gesellschaft zieht, über den keiner wirklich sprechen will.
Wir müssen, wie es Chantal Mouffe in ihrem Buch „Für einen linken Populismus“ schreibt, wieder lernen Politik als Kampfplatz der Interessengruppen zu verstehen. Dabei stehen sich nicht notwendigerweise Gegner*innen gegenüber, aber doch Kontrahenten, Gegenspieler (im Englischen: „adversary“ im Gegensatz zu „enemy“), die sich vielleicht nie auf einen gemäßigten Kern reduzieren lassen, sondern deren Wesen die offene politische Auseinandersetzung ist.
Wir brauchen diese neue Phase der Demokratie, in der nicht gleich „sozialistische Schreckensherrschaft“ ausbricht, wenn von Mietendeckel, Arbeiterkooperativen und Modern Monetary Theory die Rede ist.
Wir brauchen ein neues demokratisches Projekt, ein Projekt das Lösungen für die immensen Herausforderungen unserer Zeit bietet. Ein Projekt, das unsere Demokratie neu belebt und im Parlament, auf der Straße und in den Wohnzimmern auf den nötigen Wandel hinarbeitet.
Wir brauchen ein positives Narrativ für Migration, eine Debatte über eine mögliche Welt nach dem endlosen Wachstum, Ideen zu Demokratie am Arbeitsplatz, eine universelle Grunddividende – gespeist aus dem gemeinschaftlichen Eigentum an Ressourcen – und eine Vision für technologische Souveränität.
DiEM25 ist ein solches Projekt und hat progressive, positive und lebensbejahende Konzepte. Wir eröffnen eine neue Perspektive und wollen zeigen, dass man die verschiedenen Ebenen miteinander verbinden kann. Als Bewegung auf der Straße, wie am 28. März in Luxemburg gegen die Steuervermeidung der Reichen und Mächtigen. Mit unseren Wahlflügeln in den Parlamenten, so wie MeRA25 in Griechenland und DEMOKRATIE IN EUROPA in Deutschland. Und in den Köpfen der Menschen als Gesprächsthema in den Wohnzimmern über ein neues spannendes Projekt, dem man sich anschließen kann.
Bildrechte: Signs by Oliver Groß (CC-BY-NC-ND 2.0)

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