Die nötige Antwort auf Haftbefehle gegen Israels Regierungsverantwortliche: sofortiges Waffenembargo

Für alle, die noch nicht ganz das Vertrauen in das internationale Rechtssystem verloren haben und das Glück haben, über längerfristige Auswirkungen nachdenken zu können, wird der 21. November 2024 als besonderer Tag in die Geschichte eingehen. Die Ausstellung von internationalen Haftbefehlen gegen Benjamin Netanjahu und Joaw Galant bedeutet nicht nur, dass sie nun bei der Einreise in die EU verhaftet werden müssen. Um die Gefahr einer eigenen (straf)rechtlichen Verantwortung wenigstens für zukünftige Handlungen abzuwenden, müssen alle europäischen Regierungen mit sofortiger Wirkung ein Waffenembargo gegen Israel verhängen

Die Vorverfahrenskammer (pre-trial chamber) des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) hat am 21. November 2024 nach einem halben Jahr Prüfung Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Joaw Galant erlassen. Sie stellte einen weiteren Haftbefehl gegen Mohammed „Deif“ Al-Masri, den militärischen Befehlshaber der Hamas, aus. Er wurde allerdings wahrscheinlich von Israel getötet, genau wie Ismail Haniyeh und Yahya Sinwar, deren Tötung bestätigt ist, und somit die Haftanträge gegen sie zurückgezogen wurden. Warum sind die Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant ein so wichtiges Zeichen, selbst wenn man die individuelle Strafjustiz nicht als das wirkungsvollste Werkzeug für nachhaltige Gerechtigkeit ansieht?

Erstens fühlt sich ein Erfolgserlebnis in diesen düsteren Zeiten gut an. Darüber hinaus wird sich in Palästina die Zukunft des Völkerrechts entscheiden. Wenn Israels zügellose Gewalt unter völliger Missachtung bestehender Regeln nicht rechtlich und politisch geahndet wird, dann wird das Folgen für zukünftige Konflikte weltweit haben. Gaza entwickelt sich außerdem mehr und mehr zu einem Brennglas, in dem postkoloniale Gesellschaften ihre eigene Geschichte wiedererkennen. Es wird darauf ankommen, wie die Weltgemeinschaft die Verbrechen in Palästina aufarbeitet, und ob das Recht neue Konzepte für koloniale Gewalt finden wird.

Europa legt im Gegensatz zur USA großen Wert auf die Vereinten Nationen und die internationale Gerichtsbarkeit. Sollten europäische Staaten die Anerkennung der Haftbefehle verweigern, kann der IStGH einpacken. Der scheidende EU-Außenbeauftragte Josep Borrell reagierte auch umgehend und bestätigte, dass alle EU-Staaten als Vertragsparteien verpflichtet sind, die Gerichtsentscheidung umzusetzen. Glücklicherweise ist er noch ein paar Tage im Amt; bei seiner Nachfolgerin wäre dieses Bekenntnis möglicherweise weniger eindeutig ausgefallen. Deutschland äußerte sich erst mit ca. 24-stündiger Verspätung und erwartungsgemäß einschränkend. Regierungssprecher Steffen Hebestreit teilte unter anderem mit, „Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass wir auf dieser Grundlage Verhaftungen durchführen“. Zur Klarstellung: Als Vertragsstaat ist Deutschland rechtlich verpflichtet, Haftbefehle des IStGH umzusetzen.

Was wird Israel und seinen politischen Verantwortlichen vorgeworfen?

Wir sollten uns vergegenwärtigen, was die internationalen Gerichte, sowohl der IStGH als auch der Internationale Gerichtshof (IGH), gerade untersuchen: Israel bzw. seinen ranghöchsten Regierungsmitgliedern wird nun der komplette Kanon der schwersten internationalen Verbrechen vorgeworfen: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und Völkermord.

Wer meint, das sei alles halb so schlimm, solange nichts durch Urteile erwiesen ist, befindet sich in einem Zustand der Leugnung, der an sich rechtliche Konsequenzen mit sich bringen kann. Hierzu sollten wir die zwischenzeitlichen Befunde der internationalen Gerichte genauer zu Rate ziehen.

Der IStGH hat Grund zu der Annahme gefunden, dass Benjamin Netanjahu und Joaw Galant als verantwortliche Regierungsmitglieder Israels strafrechtliche Verantwortung tragen für:

  • die Kriegsverbrechen Aushungerung als Methode der Kriegsführung sowie beabsichtigte Angriffe auf die Zivilbevölkerung, und
  •  die Verbrechen gegen die Menschlichkeit Mord, Verfolgung, sowie andere unmenschliche Taten (other inhumane acts).

Das separate Verbrechen des Völkermords hatte der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, nicht in seinen Antrag auf Haftbefehle aufgenommen. Vernichtung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingegen schon, aber die Prozesskammer fand laut ihrer Pressemitteilung dafür zu diesem Zeitpunkt keine ausreichenden Hinweise. Die Unterschiede zwischen diesen Verbrechenskategorien sind mitunter fließend. Die nun vom IStGH veröffentlichten Informationen, genau wie die offiziellen Verlautbarungen und Anweisungen des IGH bezüglich der Völkermordklage gegen Israel, deuten darauf hin, dass die vorliegende Beweissituation schon in dieser frühen Phase der Untersuchungen auf schwerste Vergehen hindeutet.

Es wird die Aufgabe der Gerichte sein, die angezeigten Taten und ihre Zusammenhänge den jeweiligen juristischen Definitionen zuzuordnen, aber es lässt sich indirekt aus der Erklärung des IStGH entnehmen, dass die individuellen Fälle unter seiner Gerichtsbarkeit und die Völkermordklage Südafrikas gegen den Staat Israel vor dem IGH im Zuge der Ermittlungen Verbindungen aufweisen könnten.

Hinsichtlich des Vorwurfs des Kriegsverbrechens Aushungerung als Kriegswaffe erläuterte der IStGH in seiner Stellungnahme, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass der Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Strom und Treibstoff sowie an bestimmten medizinischen Hilfsgütern „Lebensbedingungen geschaffen hat, die auf die Vernichtung eines Teils der Zivilbevölkerung in Gaza ausgerichtet waren, …“ Diese Formulierung bezeichnet auch ein Element von Völkermord, wenn die Komponente der Absicht (intent) hinzukommt. Das zu untersuchen, fällt wiederum dem IGH zu, der sich mit der Völkermordklage beschäftigt.

Die Richter stellten weiterhin fest, „dass Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurde“, da es hinreichende Gründe zu der Annahme gibt, dass „die Bevölkerung aus politischen und/oder nationalen Gründen“ verfolgt wird. Das ist ein weiteres Element von Völkermord, das sich hier in der Begründung für einen anderen Straftatbestand (den der Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit) wiederfindet.

In Bezug auf Vernichtung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit befand die Kammer, dass nicht alle Merkmale des Tatbestands erfüllt sind. Sie stellte jedoch fest, „dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass das Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Mordes in Bezug auf diese Opfer begangen wurde.“ Der Unterschied zwischen Vernichtung und Mord als Völkerrechtsverbrechen liegt hauptsächlich in der Anzahl der Opfer. Das heißt, hier geht es um Quantität, nicht Qualität, da Verbrechen gegen die Menschlichkeit grundsätzlich „weitverbreitet und systematisch“ sein müssen.

Alles in Allem sehen wir uns hier mit einer Situation konfrontiert, die das Schlimmste vermuten lässt. Diejenigen von uns, die die Bilder aus Palästina seit mehr als einem Jahr tagtäglich verfolgen – nicht zu reden von den Menschen, die in Gaza um ihr Leben kämpfen – werden sich wundern, was daran überraschend ist. Trotzdem ist die Tatsache, dass der IStGH trotz des immensen politischen Drucks einen Haftbefehl gegen Israels Regierungschef ausstellt, von enormer Tragweite und zeigt, dass es auch dem Gericht im übertragenen Sinne ums Überleben geht.

Was ergibt sich daraus für Politik und Medien?

In direkter Konsequenz müssen Benjamin Netanjahu und Joaw Galant von den örtlichen Behörden verhaftet werden, sollten sie den Boden eines der 124 Vertragsstaaten des IStGH – darunter alle EU-Mitglieder und Großbritannien – betreten. Des Weiteren müssen als Minimalziel mit sofortiger Wirkung Waffenlieferungen an Israel eingestellt werden, um sich nicht selbst strafbar zu machen. Schließlich muss die internationale Gemeinschaft unbedingt sicherstellen, dass Israel keine weiteren Massaker mehr verübt.

Für Regierungsmitglieder wie Olaf Scholz, Boris Pistorius und Annalena Baerbock – und auch für Führungspersonen in den etablierten Medien, die nach wie vor überwiegend Israels Handlungen rechtfertigen oder verschleiern – ist klar: die Unterstützung von mutmaßlichen aber offensichtlichen Menschheitsverbrechen kann zukünftig auch ein Verfahren nach sich ziehen. Hierbei ist besonders hervorzuheben, dass der IStGH – obwohl die Haftbefehle als geheim eingestuft sind – beschlossen hat, die „Informationen freizugeben, da ein ähnliches Verhalten wie das im Haftbefehl angesprochene offenbar noch andauert.“ Das heißt, das Gericht ermittelt weiter, und mögliche neue Straftaten sowie weitere Beschuldigte können in dieses oder andere Verfahren aufgenommen werden.

Wie sich die Saga in den internationalen Gerichten weiterentwickelt, lässt sich nicht sagen, insbesondere, da sie unter schwersten Bedingungen arbeiten: die Chefankläger:innen des IStGH werden offenkundig seit Jahren massiv bedroht und erpresst, die USA – wie Israel kein Vertragsstaat des IStGH – drohte sofort mit Sanktionen, und Israel beschuldigt die Gerichte und somit ihre Richter:innen und Mitarbeiter:innen des Antisemitismus. Auch hier haben Vertragsstaaten die Pflicht, Einschüchterungen oder Sabotage des Gerichts zu unterbinden und zu ahnden.

Abgesehen von rechtlicher Verantwortung von öffentlichen Meinungs- Entscheidungsträger:innen unterstreichen die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs die Bedeutung von gesellschaftlichem Protest, um dem völkerrechtswidrigen und menschenverachtenden Handeln Israels gegen die Palästinenser:innen ein Ende zu setzen.

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