Europa braucht endlich eine eigene Stimme in der Außenpolitik. Mit der NATO geht das nicht, und kein Militärbudget wird ausreichen, wenn langfristig auf dem europäischen Kontinent (Stellvertreter)kriege geführt werden. Blockfreiheit ist der einzige Weg zur Selbstbestimmung. Und das gilt nicht erst, seitdem eine unberechenbare und isolationistische US-Regierung am Werk ist.
Die heutige Kriegslust hat viel damit zu tun, dass Europa keinen eigenen Zukunftsentwurf für seine internationalen Beziehungen hat. Die europäischen Regierungen und etablierten Medien setzen die Demokratie und Meinungsfreiheit aufs Spiel, um unsere Gesellschaften zu militarisieren, sei es aus Solidarität mit Israels Apartheidregime oder für eine Mobilisierung gegen Russland. Wenn langfristig auf dem europäischen Kontinent heißer oder kalter Krieg herrscht und in anderen Regionen Konflikte und Flucht durch Waffen oder sonstige Einmischung geschürt werden, dann mag das für die USA auf der anderen Seite des Atlantik in Ordnung sein, aber ganz sicher nicht für uns. Kein noch so hohes Verteidigungsbudget wird ausreichen, wenn weiterhin auf Konfrontation anstatt auf Diplomatie gesetzt wird.
Im Moment deutet vieles darauf hin, dass der Krieg in der Ukraine endlich beendet werden kann, eine großartige Nachricht für die Menschen in der Region. Allerdings außenpolitisch mit einem denkbar schlechten Ausgang für die EU und die Ukraine. Während die EU in die politische Bedeutungslosigkeit geschickt wird, gestalten Russland und die USA in Saudi-Arabien den Verhandlungsrahmen. Die Ukraine bleibt auf lange Sicht auf Hilfe angewiesen, finanziert von der EU, und die NATO-Mitgliedschaft ist vom Tisch. Niemand, der oder die sich mit internationaler Politik beschäftigt, kann ernsthaft behaupten, diese Entwicklungen kämen unvorhergesehen.
Wie Deutschland und die EU damit umgehen können, ist eine der großen Herausforderungen für die Zukunft. Viele grundsätzliche Fragen lassen sich derzeit aufgrund der desolaten Lage gar nicht lösen, wie zum Beispiel, wie die europäischen Staaten zu einer gemeinsamen Außenpolitik kommen können, oder wie eine zukünftige Sicherheitsarchitektur konkret aussehen soll. Um diese Antworten zu finden, können wir uns aber zumindest kritisch mit dem auseinandersetzen, was die etablierten Parteien gerade anzubieten haben.
2, 3 oder 5 % für Rüstung: Über welche Größenordnungen reden wir eigentlich?
Alle Parteien von grün bis rechtsaußen sowie der Bundespräsident sind sich einig: Deutschland muss viel mehr Geld für Militär und Rüstung ausgeben. In der öffentlichen Debatte kursieren Zahlen, die ohne eine vergleichende Einordnung gar nicht greifbar sind. Nun sind Zahlen natürlich nicht alles, aber da sie gerade genutzt werden, um den Menschen zu erklären, dass für Militarisierung und Aufrüstung die Grundlagen unserer Wirtschaft und der Sozialsysteme zerstört werden müssen, sind sie einen Blick wert. 2 %, 3,5 %, 5 % des BIP (Bruttoinlandsprodukt) für Verteidigung, was bedeutet das konkret?
Erstens, wer gibt wieviel seines BIP für Verteidigung bzw. Rüstung aus: Deutschland hat das letzte Mal 1991 mehr als 2% seines BIP für Verteidigung ausgegeben. Nach einem historischen Tiefstand 2005 von 1 % liegen die Ausgaben aktuell bei ca. 1,5 % – genauso viel wie China (in absoluten Zahlen investiert China natürlich mehr, aber immer noch rund 50 Milliarden Euro weniger als die EU). Wenn Robert Habeck, Minister für Wirtschaft und Klimaschutz und Kanzlerkandidat der Grünen, die Zahl 3,5 % in den Raum stellt, dann wäre das also mehr als eine Verdopplung des aktuellen Verteidigungshaushalts. Es wäre anteilig ungefähr so viel, wie die USA für ihr Militär ausgeben. Nun unterhalten die USA aber auch um die 800 Militärstützpunkte weltweit, um ihre hegemoniale Herrschaft zu sichern. Diesen Anspruch sollte Deutschland offensichtlich nicht haben. Russland gibt mit 4 % seines BIP anteilig mehr für Verteidigung aus. In absoluten Zahlen ist das allerdings nur ungefähr ein Viertel dessen, was die EU-Staaten gemeinschaftlich ausgeben, und ca. ein Zehntel des Verteidigungsbudgets der USA.
Aufgrund dieser numerischen Fakten scheint die Vorstellung, Wladimir Putin plane, Deutschland oder ein anderes EU-Mitglied anzugreifen, mehr als unwahrscheinlich, um nicht zu sagen, wirklichkeitsfremd. Das gilt heute so wie 2022. Wenn Deutschland und die EU allerdings weiterhin Kriegspropaganda betreiben, dann können sich die Vorzeichen auch ändern – siehe Ukraine. Deshalb bedeutet das selbstverständlich nicht, man sollte einfach gar nichts tun. Im Gegenteil, es braucht eine umfassende Deeskalationsinitiative, nicht zuletzt für die Sicherheit unserer Nachbar:innen in Osteuropa.
Nun zum Bundeshaushalt: Die Prozentpunkte, mit denen jongliert wird, beziehen sich ja auf das BIP, nicht auf das Staatsbudget. 2023 lag Deutschlands BIP bei rund 4,2 Billionen Euro, und der Entwurf des Bundeshaushalts 2025 beläuft sich auf etwas weniger als eine halbe Billion Euro (490 Milliarden). Um bei Herrn Habecks 3,5 % des BIP zu bleiben, wären das um die 150 Milliarden Euro fürs Militär. Das ist knapp ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts 2025, einschließlich aller Sozialleistungen und Rentenzahlungen! Sondervermögen und Kostenstellen des Auswärtigen Amtes (!) für das Militär sind ausgenommen. Annalena Baerbock ließ kürzlich die astronomische Summe von 700 Milliarden Euro Militärhilfe für die Ukraine durch die EU fallen. Das ist mehr als doppelt so viel wie alle Verteidigungshaushalte der EU-Staaten 2024 zusammen. Es drängt sich die sprichwörtliche Frage auf, woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Vor Aufrüstung ist selbst die Schuldenbremse nicht mehr sicher
Es ist ja großartig, wenn endlich die Schuldenbremse in Frage gestellt wird und die Einsicht erfolgt, dass der Staat im großen Stil investieren muss. Aber für Kriegstüchtigkeit und Waffen? Warum fordert Herr Habeck als Minister für Wirtschaft und Klimaschutz und Kanzlerkandidat der Grünen nicht 3,5% des BIP für die sozialökologische Transformation? Mit dieser Summe ließe sich zumindest arbeiten. Vor allem, wenn darüber hinaus durch innovative Wirtschafts- und Finanzpolitik auch die Vermögenswerte der Superreichen, die nicht im BIP auftauchen – Reichtum, der nichts mit Wertschöpfung zu tun hat – für einen gerechten grünen Wandel, nachhaltiges Wirtschaften, und funktionierende Sozialsysteme genutzt werden.
Auch wenn es aufgrund der Geschichte der Partei besonders verstörend ist, sind die Grünen in ihrem Kriegswahn nicht allein. Alice Weidel von der AfD reagierte ebenso positiv auf die Forderung von US-Präsident Trump, die Europäer sollten 5 % ihres BIP (über 40 % des aktuellen Haushalts) ins Militär investieren. Die Vorstellung, es müsse jetzt massiv ins Militär investiert werden, da die USA andeuten, sich aus Europa zurückziehen zu wollen, ist nur ein weiterer Ausdruck von Abhängigkeit, der den lang andauernden Mangel an eigener Strategie offenlegt. Als skrupelloser Geschäftsmann erkennt Donald Trump die Gelegenheit, globale Konflikte und den Wiederaufbau zerstörter Länder von der EU finanzieren zu lassen. Der Zweck des NATO-Militärbündnisses ist aber nicht erst seit Trump überkommen. Spätestens seit der Auflösung des Warschauer Paktes, der seinerzeit von der Sowjetunion geführten Verteidigungsallianz, ist die NATO als einziges nennenswertes Militärbündnis der Welt ein Störfaktor in den internationalen Beziehungen. Wenn China seine Verteidigungsausgaben verhältnismäßig niedrig halten kann, dann kann Europa das auch. Und es sollte aus Eigeninteresse keinesfalls dazu beitragen, dass China diese Strategie ändert.
Also: Schuldenbremse abschaffen, ja. Unser Geld für Waffen und Kriege ausgeben, nein.
NATO-Mitglieder als Friedenstruppen an der russischen Grenze?
Allein die Tatsache, dass einige EU-Regierungen und Großbritannien seit dem Desaster der Münchner “Sicherheits”konferenz öffentlich darüber nachdenken, nach einem möglichen Waffenstillstand Friedenstruppen in die russisch-ukrainische Grenzregion zu entsenden, ist erschütternd. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, um diesen Unfug zu dekonstruieren. Es handelt sich hier samt und sonders um NATO-Mitglieder. Dies als Vorschlag in der Öffentlichkeit streuen, kann eigentlich nur bedeuten, dass man vorhat, die möglichen Friedensverhandlungen zu sabotieren. Die USA haben angekündigt, keine Friedenstruppen zu schicken. Natürlich nicht. Dabei gleichzeitig wohlwollend auf die Angebote der europäischen Staaten zu reagieren, zeigt nur die Herablassung, die die US-Regierung Europa entgegenbringt. Die NATO direkt vor der Haustür – der Hauptkriegsgrund für Russland – soll nun unbemerkt im Zuge der Friedenssicherung erreicht werden? Finde den Fehler, möchte man rufen. Der Vorstoß macht auch deutlich, wie schnell die Souveränität der Ukraine vergessen wird, wenn es darum geht, sich einen Platz am Verhandlungstisch zu sichern.
Wenn Europa eigene Standpunkte hätte, könnte es diplomatisch aktiv werden und mit Moskau sprechen, oder auch die UNO ins Spiel bringen. Die UNO ist zwar leider nicht das, was sie verspricht, und sie bedarf weitreichender Reformen, aber trotz allem ist sie das einzige Forum, das die Weltgemeinschaft als Ganze hat. Das Gleiche gilt für die internationalen Gerichte. Um eine rechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen in der Ukraine zu ermöglichen, sollten EU-Staaten die Autorität der internationalen Gerichte nicht an anderer Stelle – wie in Bezug auf Israels Verbrechen – untergraben.
Der globale Süden hat den Sinn der Blockfreiheit vor 70 Jahren in Bandung erkannt. Nun ist Europa an der Reihe, sich zu emanzipieren.
Grafik von Armando Milani.
Möchtest du über die Aktionen von DiEM25 informiert werden? Registriere dich hier