16 Gewerkschaften und Gigworker-Kollektive rufen die Arbeitsministerinnen und Arbeitsminister in der Europäischen Union auf, ihren Kampf für menschenwürdige Arbeit gegen den Missbrauch durch Plattformen zu unterstützen
Sehr geehrte Arbeitsministerinnen und Arbeitsminister der Mitgliedstaaten der Europäischen Union,
Am 12. und 13. Juni werden Sie über die Richtlinie über die Rechte von Plattformarbeitenden abstimmen. Für uns, die Plattformarbeiter, ist diese Richtlinie von entscheidender Bedeutung. Unser Leben hängt von ihr ab. Die Richtlinie soll unseren Status (selbständig oder angestellt), unsere Beziehung zu den Plattformen und die Transparenz ihrer Algorithmen bestimmen.
Wir sind Fahrerinnen und Kuriere. Wir haben diese Jobs im naiven Glauben an den Mythos der unternehmerischen Freiheit gewählt. Wir dachten, wir könnten unsere Preise, unsere Arbeitszeiten und unsere Arbeitsbedingungen selbst bestimmen. Doch die Realität sieht anders aus. Wir verbringen unsere Tage damit, auf einen Auftrag oder eine Besorgung zu warten — so als würden wir als Geiseln gehalten, ohne zu wissen, wann ein Auftrag erwartet wird. Lehnten wir einen ab, so wiese uns die Plattform immer weniger Aufträge zu.
Wie viele Fahrerinnen und Kuriere arbeiten wir bis zu 13 Stunden pro Tag, 7 Tage die Woche. Uber, Bolt, Heetch, diese Plattformen benutzen uns als ihre Sklaven. Wir sind von ihrem Willen abhängig und stehen unter ihrer Kontrolle, aus Angst, nicht über die Runden zu kommen. Für 70 Stunden Arbeit pro Woche verdienen wir in Wirklichkeit nur 1300 € pro Monat. 4,30 € pro Stunde. Ist das ein erstrebenswertes, würdiges Einkommen für jemanden, der seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern dienen will? Die Plattformen kriegen immer genug Geld. Sie berechnen uns Provisionen von bis zu 40 € pro Fahrt. Wie rechtfertigt bloß das “Verbinden” diese Provisionen? Wie viel Wohlstand schaffen diese Unternehmen, indem sie einfach einen Kunden und einen Fahrer zusammenbringen? Die von den Plattformen auferlegten Preise führen dazu, dass immer mehr von uns nicht mehr in der Lage sind, ihre Mietwagen oder ihre Versicherung zu bezahlen. Unter den Bedingungen der Plattformen können wir keinen angemessenen Lebensunterhalt verdienen.
Als Fahrradkuriere fahren wir oft mehr als 100 km pro Tag, um Mahlzeiten auszuliefern. Gegen den Wind, im Regen, im Schnee oder mitten in einer Hitzewelle treten wir in die Pedale, damit Sushi, Burger oder Pizzen unter den bestmöglichen Bedingungen beim Kunden ankommen. Bei jedem Wetter fahren wir so schnell wie möglich, um die Liefertermine einzuhalten. Die App gibt uns die Aufträge. Und damit wir pünktlich ankommen, befiehlt sie uns, die Verkehrsregeln zu missachten. Wenn es bei einer Lieferung zu einem Unfall kommt, sind die Plattformen, die uns dauernd überwachen, sofort unerreichbar. Kein Arbeitsunfall, kein Krankenstand, nichts wird von UberEats, Deliveroo oder Wolt übernommen. Weder für unsere Ausrüstung noch für unsere Gesundheit.
Das schwächt uns physisch und psychisch. Der Druck ist so groß, dass Herzinfarkte in unseren Berufen keine Seltenheit sind — und Unfälle passieren jeden Tag. Die Angst, ein Rennen zu verpassen, die stundenlangen Wartezeiten unter Anspannung schwächen unsere menschlichen Beziehungen. Immer mehr von uns durchleben Scheidungen, die Entfernung von unseren Familien und die Isolation, die uns durch unsere Arbeit auferlegt wird.
Man sagte uns, wir seien “Partner”, wir dachten, wir würden als Gleichberechtigte behandelt. Aber das sind wir nicht. Wir sind nur digitale Sklaven im Dienste eines Algorithmus. Offiziell sind wir unabhängig, in Wirklichkeit jedoch den Plattformen untergeordnet. Denn sie sind es, die unsere Preise festlegen, unser Aussehen wählen, unsere Routen und Reisezeiten vorschreiben. Während der Pandemie haben viele von uns unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern gedient. Wer lieferte ihre Lebensmittel, ihre Mahlzeiten, als es verboten war, auszugehen? Wer ist durch verlassene Straßen geradelt, zu Tode erschrocken, aus Angst, einen Virus mit nach Hause zu bringen, über den wir nichts wussten? Am Ende der Pandemie sperrten die Plattformen — ohne ein Wort — Tausende von uns. Denn ja, Uber, Deliveroo und die anderen Plattformen sperren uns, wenn sie uns nicht mehr wollen — ohne Begründung, ohne die Möglichkeit, eine Erklärung von einem Menschen zu bekommen, und ohne Anspruch auf Regress. Es gibt keine HR-Abteilung oder einen Kundendienst für uns. Unsere Versuche, uns mit ihnen zu treffen, werden nicht beantwortet. Es ist, als wären wir über Nacht ausradiert, unsere Arbeit und unsere Existenz entmenschlicht worden.
Wir wissen nie, warum wir eine Fahrt bekommen und eine andere nicht, warum sie einem Kurier, einem Fahrer zugewiesen wird und nicht einem anderen. Ein Algorithmus bestimmt und kontrolliert unsere Arbeit ohne Unterbrechung und ohne jede Form von Transparenz. Und während wir auf Anweisung einer Maschine arbeiten, werden unsere Daten ständig gesammelt und verarbeitet, ohne dass wir Einspruch erheben können.
Wir zahlen unsere Steuern, während die Plattformen sie umgehen und hinterziehen. Wir sagen es: Das ist inakzeptabler unlauterer Wettbewerb, der die niedrigsten sozialen Standards fördert. Wie immer sind in diesem Zusammenhang die Arbeitenden die anpassbare Variable.
Die Plattformen versuchen, Sie davon zu überzeugen, dass wir einen “sozialen Dialog” zwischen uns und ihnen brauchen. Diese Idee ist in Wirklichkeit nur ein Vorwand, um zu vermeiden, dass die Plattformen ihre Pflichten als Arbeitgeber wahrnehmen müssen. Was wir brauchen, sind echte Rechte, die in Stein gemeißelt sind, und keine falschen Diskussionen, um Almosen zu bekommen.
Aus den Medien erfahren wir, dass Sie darüber nachdenken, den Mitgliedsstaaten das Recht einzuräumen, die Beschäftigungsvermutung nicht anzuwenden, wenn es bereits Tarifverträge oder Gesetze gibt: Unsere Rechte müssen in ganz Europa eine gemeinsame Grundlage haben — Ausnahmen sind dabei inakzeptabel.
Wir wissen, dass viele von Ihnen versucht sind, das ultra-liberale Modell der Plattformen zu unterstützen. Nach Angaben der Europäischen Kommission hatten die Plattformen während der Ausarbeitung der Richtlinie mehr als hundert Treffen mit der Direktion für Beschäftigung, Soziales und Integration. Gewerkschaften und Beschäftigte werden verjagt, wenn sie ihren Fall vorzutragen möchten. Ihre Wählerinnen und Wähler erwarten mehr von Ihnen.
Arbeitsministerinnen und Arbeitsminister der EU-Mitgliedstaaten, unser Leben hängt von Ihren Beratungen ab. Es ist Ihre Pflicht, unsere Unterordnung unter die Plattformen anzuerkennen. Wir bitten Sie, am Tag Ihrer Ratstagung sicherzustellen, dass Sie eine Richtlinie unterstützen, die bedingungslos und ohne Kriterien erlaubt:
- Die transparente und sichere Nutzung von Algorithmen;
- Die Achtung der Rechte von wirklich selbständigen Arbeiterinnen und Arbeitern;
- Die korrekte Einstufung von Arbeiterinnen und Arbeitern, die eigentlich Angestellte sein sollten, ohne dafür vor Gericht gehen zu müssen;
- Fairer Wettbewerb zwischen Plattformen und anderen Unternehmen.
Abschließend fordern wir eine Beschäftigungsvermutung, die nicht an eine Reihe von Bedingungen geknüpft ist, wie z. B. die Erfüllung von drei von sieben Punkten. Unserer Erfahrung nach eignen sich derartige Bedingungen dazu, das Gesetz zu umgehen, indem man nach Umwegen sucht.
In diesem Sinne unterstützen wir den Vorschlag des Europäischen Parlaments, der eine Beschäftigungsvermutung vorsieht, bei der die Unternehmen die Selbstständigkeit der Arbeiterinnen und Arbeitern in jedem Kontext nachweisen müssen, ohne dass es eine Liste von Kriterien gibt, die umgangen werden können.
Auch diese Beschäftigungsvermutung muss von allen Mitgliedstaaten geregelt werden. Man darf nicht zulassen, dass sich Staaten nicht daran halten, denn das würde bedeuten, dass man der mächtigen Lobby die Tür öffnet, die in einem Staat nach dem anderen agiert, um unsere Rechte hier und dort zu beseitigen.
Wir sind am Ende des Weges angelangt. Wir zählen darauf, dass Sie die Sache in die Hand nehmen. Wir werden dann am Tag der Ratstagung wissen, ob Sie auf der Seite von Uber oder der Bevölkerung stehen.
Unterschriften:
- Intersyndicale Nationale VTC, FrankreichTaxiunionen, Schweden
- Fahrerkollektiv & Gewerkschaft vida, Österreich
- GigWatch, Schweden
- Collectif des coursier-es bruxellois-es, Belgien
- Elite Taxi, Spanien
- Taxi-Projekt, Spanien
- RiderXderechos, Spanien
- Deliverance Mailand, Italien
- Lieferando Workers Collective, Deutschland
- Collectif des Livreurs Autonomes de Plateformes, Frankreich
- Syndicat CGT des Livreurs Ubérisés Toulousains, Frankreich
- Federatie Nederlandse Vakbeweging, Niederlande
- FO just eat, Frankreich
- ADCU App Drivers and Couriers Union, Großbritannien
- Filt Cgil Emilia Romagna, Italien
Foto: The Left
This article was originally published by the Progressive International
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