Wie der Völkermord in Gaza genutzt wird, um Vorurteile im eigenen Land zu schüren
Stell dir vor, du triffst in deinem Haus auf ein paar Arbeiter:innen und grüßt sie freundlich. Wenige Minuten später klopfen Polizeibeamte an deine Tür. Du wirst verhaftet, weil du „Hallo“ gesagt hast. Das Problem? Du hast es auf Arabisch getan.
In dieser Situation befand sich kürzlich eine Frau in Paris, nachdem ihre Nachbarn gehört hatten, wie sie auf Arabisch „assalam alaykum“, „Friede sei mit dir“, sagte, und die Polizei riefen.
Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober haben die europäischen Staats- und Regierungschefs sowie die Medien und andere Institutionen Reaktionen gezeigt, die im Laufe der letzten Tage immer besorgniserregender und widersprüchlicher geworden sind.
Zunächst gab es eine einhellige Unterstützung für Israel – eine verständliche Reaktion angesichts des Verlustes an zivilen Leben, wäre da nicht der eklatante Mangel an ähnlichem Mitgefühl für Palästinenser:innen, die fast täglich von israelischen Besatzungstruppen und illegalen Siedler:innen getötet werden. Diese Unterstützung wurde durch die völlig unverhältnismäßige, kriminelle Reaktion der israelischen Regierung nicht erschüttert, die derzeit eine Bevölkerung von 2,2 Millionen Zivilist:innen durch wahllose Bombardierung, Zwangsumsiedlung und vorsätzliches Aushungerung auszulöschen droht.
Dann gab es das Verbot von Demonstrationen zur Unterstützung der Palästinenser:innen, die durch in den USA und Europa hergestellte Bomben dezimiert werden, meist unter dem Vorwand der Bekämpfung des Antisemitismus – obwohl viele der Stimmen, die sich zur Verteidigung der Menschen im Gazastreifen zu Wort melden, jüdisch sind -, was eindeutig darauf hindeutet, dass Judenfeindlichkeit in muslimischen und arabischen Gemeinschaften in Europa impliziert wird. In Deutschland wurde das Zeigen von palästinensischen Flaggen ebenfalls verboten, und ein Schüler wurde sogar von einem Lehrer geschlagen, weil er eine solche Flagge in die Schule mitgebracht hat.
Der Berliner Bezirk Neukölln, in dem zu einem großen Teil eine türkisch- und arabischstämmige Bevölkerung lebt, ist zu einem alarmierenden Symbol für diesen offen zur Schau gestellten Rassismus geworden. Die starke, ununterbrochene Präsenz von Polizei hat den Bezirk in einen Polizeistaat verwandelt. Die Beamt:innen schikanieren die Anwohner:innen und führen groteske Aktionen durch, wie das Austreten von Trauerkerzen, das Schubsen und Festnehmen von Kindern und das Festnehmen einer einzelnen jüdischen Demonstrantin, die ein Schild hochhält.
Mainstream-Medien und Politiker:innen haben die Stimmung zusätzlich angeheizt. Als Katrin Elger für den Spiegel über das aktuelle politische Klima in Neukölln schrieb, zeichnete sie das Bild eines Viertels, in dem jüdische Menschen in Angst leben, bevor sie alle journalistische Integrität in den Wind schlug, indem sie andeutete, dass zwei eingewanderte Männer, die sie interviewte – neben „so vielen im Nahen Osten“ – Israelis für „dreckige Schweine“ hielten, was sie nie gesagt haben. Es wurden keine Jüd:innen interviewt, und einige jüdische Neuköllner – darunter der Journalist Ben Mauk, der kürzlich von der Polizei mit Pfefferspray besprüht wurde, als er eine gewaltsame Verhaftung in der Gegend filmte – diskreditieren ihre Darstellung rasch.
Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, ein Sozialdemokrat, zeigte in Der Spiegel sein Donald Trump Gesicht, indem er für Massenabschiebungen plädierte. Inmitten all der Massenhysterie fühlte sich die Journalistin Fatina Keilani so wohl, dass sie den leisen Teil einfach laut aussprach: „Islamophobie kann gerechtfertigt sein.“
Antisemitismus ist ein Problem in Europa, und er hat in den letzten Tagen zugenommen. Er hat in keiner Gesellschaft Platz und muss energisch bekämpft werden. Das Gleiche gilt für Islamophobie. Wir tun gut daran, uns daran zu erinnern, dass von den 2.480 Vorfällen von Antisemitismus, die im Jahr 2022 in Deutschland dokumentiert wurden, 470 auf Täter mit rechtsextremem Hintergrund zurückzuführen sind – eine weitaus größere Zahl als die 16, die einen islamischen oder islamistischen Hintergrund hatten. Zu bedenken ist auch, dass die faschistische AfD in den Umfragen bundesweit auf dem zweiten Platz liegt. Und dass rechtsextremes Gedankengut genau unter den Menschen verbreitet ist, die derzeit an Orten wie Neukölln täglich individuelle Rechte verletzen.
So haben es über 100 in Deutschland lebende jüdische Künstler:innen, Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen in einem schönen offenen Brief zusammengefasst: „Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diesen Vorwand für rassistische Gewalt ab und bekunden unsere volle Solidarität mit unseren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbarn. Wir weigern uns, in vorurteilsbehafteter Angst zu leben.“
Das sollte für uns alle gelten.
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