Der Experte Simon Krämer über die Notwendigkeit einer Strukturwende im menschlichen Ernährungssystem. Ein Positionspapier.
Eine Einordnung zum Status quo des Ernährungssystems
Obwohl Bäuer:innen genug Nahrungsmittel produzieren, um das 1,5-fache der Weltbevölkerung zu ernähren, gehen etwa eine Milliarde Menschen jede Nacht hungrig schlafen. Dazu kommen fast zwei Milliarden Leidende des ‘Verborgenen Hungers’ (chronische Unterversorgung mit Mikronährstoffen), eine stetig wachsende und ähnlich große Zahl an Übergewichtigen sowie Leidende unter chronischen Krankheiten und Zoonosen. Und täglich werden es mehr!
Dieser ‚Krebs‘ ist keine zufällige Fehlallokation eines schlecht regulierten Marktes, sondern das Ergebnis eines konstruierten Systems im Interesse der Finanz-, Fossil- und Agrarindustrie.
Die Ausbeutung durch das industrielle Ernährungssystem (Corporate Food Regime) ist maßgeblich verantwortlich für die Erderhitzung, den Verlust der Biodiversität, die Bodenerosion und -degradation, die Wasserknappheit, die agrochemische Verschmutzung und die Verstetigung der imperialistischen Unterdrückung und Ausrottung von indigenen Mitmenschen und Kleinbäuer:innen im globalen Süden. Kurz: Für das sich beschleunigende Massenaussterben allen freien Lebens auf unserer Erde.
Zugleich scheitert das System zusehends an seiner eigenen Logik: Abnehmende Erträge trotz erhöhten Einsatzes von synthetischen Düngemitteln und Pestiziden und rasant anwachsende Resistenzen von ‘Schädlingen’ sind nur einige Beispiele, die das industrielle Ernährungssystem zurzeit dazu veranlasst, mit vereinter Lobbykraft seine angebliche Daseinsberechtigung in allen öffentlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskursen mit den biedersten Mitteln zu bekräftigen. Der gesamtheitliche soziale und ökologische Niedergang wird nicht nur ignoriert, sondern gezielt auf einen Sündenbock abgewälzt: Die Biolandwirtschaft mit ihrer angeblich zu geringen Produktivität gefährde die Welternährung.
In Wahrheit zerstört die Profitgier der Oligarchie die Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten. Nur 1 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe bewirtschaftet mehr als 70 Prozent der weltweiten Anbauflächen. Und trotzdem ernähren Kleinräumige Nahrungsnetze 70 Prozent der Weltbevölkerung. Die industrielle Nahrungskette stützt sich auf nur 16 Pflanzenarten für 86 Prozent der globalen Nahrungsmittelproduktion. Es wird geschätzt, dass 75 Prozent der genetischen Vielfalt innerhalb dieser dominanten Arten durch Aussterben verloren gegangen sind. Fast 50 Prozent unserer gesamtgesellschaftlichen Ressourcen der Pflanzenforschung werden für eine einzige Art, Mais, verpulvert. Kleinbäuer:innen arbeiten dagegen weltweit mit schätzungsweise 7.000 Arten. Und obwohl traditionelle indigene Territorien nur noch 22 Prozent der weltweiten Landfläche bedecken, bewahren sie 80 Prozent der uns noch verbliebenen Biodiversität.
Die immer tieferen Risse im Stoffwechsel zwischen Mensch und Ökologie sind die unmittelbare Folge der Ausbeutung von Menschen und unserer Mitwelt im globalen Süden, aber auch in Europa und Deutschland. Prekär Beschäftigte sind Standard in der deutschen Ernährungswirtschaft. Unser Gemüse wird in Südeuropa von versklavten Geflüchteten geerntet. Bei der Saatgutproduktion für eben jene in Südeuropa und Holland gepflanzten Hybridtomaten schuften kaum entlohnte minderjährige Frauen in Indien von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Dieselben Produktionsprozesse töten Böden, Gewässer und Wälder, zerstören indigene Völker, die Biodiversität und unser Klima. Die Grundlage allen irdischen Lebens schwindet unter dem Anspruch eines unendlichen kulinarischen (und kosmetischen) Angebots in Deutschlands Supermärkten, Lieferdiensten und Gastronomie.
Unsere Vision eines regenerativen Ernährungssystems
Die größten Herausforderungen unserer Zeit sind die unmittelbaren Folgen unserer Ernährung. Aber eben diese bietet als Grundursache auch gleichsam den größten Hebel in der Bekämpfung dieser ausbeuterischen Produktionsstrukturen. Landwirtschaftliche Anbaumethoden können Kohlenstoff- und Wasserspeicherkapazität des Bodens und auch die Biodiversität positiv beeinflussen. Dies ist wiederum die Grundlage für die Sicherung der europäischen Ernährungssicherheit und gleichsam die Voraussetzung für die Schaffung von Ernährungssouveränität und dadurch Ernährungssicherheit im globalen Süden.
Die Ernährungswirtschaft bietet die Chance verwurzelter (siehe dazu z.B. Simone Weils “Oppression and Liberty” oder Peter Kropotkins “The Conquest of Bread”), nicht entfremdeter Arbeit. Handelspolitik kann dazu beitragen, in einer nachhaltigen Subsistenzwirtschaft verankerte Existenzgrundlagen zu sichern oder überhaupt erst wieder zu schaffen. Entwicklungspolitik kann nur gelingen, wenn sie Fluchtursachen an ihrer Wurzel bekämpft. Nichts Geringeres sind die erklärten Ziele unserer Ernährungssystempolitik.
“[…] die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.”
(Marx, MEGA2 I/2: 264 f.)
Humanismus = Naturalismus
In unserer Vision sind agrarökologische bäuerliche Landwirtschaftsbetriebe und regionale Vertriebsgenossenschaften das anerkannte Rückgrat unserer Gesellschaft. Unsere Entwicklungspolitik versucht die nötigen Bedingungen für die Selbsthilfe des Globalen Südens nach Vorbild von Thomas Sankara in Burkina Faso, Subcomandante Marcos in Chiapas oder den Revolutionär:innen von Rojava (Kurdistan) zu schaffen. Exakt dieselben Bedingungen werden uns moralisch abverlangt vom ökologisch-humanistischen Imperativ und dem uns verbliebenen Anstand.
Durch die Wiedererlangung der uns eigensten und die Natur am stärksten beeinflussenden Produktionsmittel, die Produktionsmittel der Agrarkultur (der Kultivierung unseres Bodenökosystems, auf dem sich alles Leben gründet) können wir unsere Beziehungen mit der Natur und unseren Mitmenschen heilen. Ein Berg sinnvoller, sinnstiftender, und selbstermächtigender Arbeit liegt vor uns. Das Ziel: Die Erlangung der Freiheit durch die Schaffung einer Ernährungssouveränität, welche die Natur regeneriert.
Handlungsmaximen für ein regeneratives Ernährungssystem
Die vertikale und horizontale Konsolidierung entlang der gesamten Wertstoffkette unserer Nahrung sowie die sich seit des Ukrainekriegs erneut immens beschleunigende Markt- und Machtkonzentration innerhalb des Ernährungssystems müssen gestoppt werden.
Die globale Wertstoffkette muss in regionale regenerative Kreisläufe umgeformt werden. Agrarsubventionen müssen zu 100% eine sozio-ökologische Zweckbindung beinhalten. Für die Agrarpolitik der Bundesregierung fordern wir kurzfristig eine Erneuerung des nationalen Strategieplans der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU mit maximaler ökologischer und sozialer Zweckbindung. Darüber hinaus muss die Operationalisierung der Agrarpolitik im Sinne der Bäuer:innen vereinfacht werden.
Langfristig fordern wir eine Kopplung der Förderung, Regulation und Umverteilung von Agrarland an Trend-Bodendaten. Damit wollen wir eine 100% ökologische und soziale Zweckbindung der Direktzahlungen mit Obergrenze und Degression in effizienter Weise umsetzen, sowie langfristig unsere Mitmenschen zu einer regenerativen und selbstermächtigenden Ernährungssouveränität befähigen.
Das Kartellrecht muss im Bodenrecht sowie in der Ernährungswirtschaft strikter angewandt werden. Tierbesatzdichten müssen in vielen Gegenden Deutschlands abgebaut und unsere Landwirtschaft von ihren Export-Ambitionen befreit werden.
Die Nutztierhaltung ist nur dann legitim, wenn sie in systemintegrierter Weidenutzung zum Erhalt der Ökosysteme und zum Schließen von agrarbetrieblichen Stoffströmen beiträgt sowie in keiner Nahrungsmittelkonkurrenz zum Menschen steht. Gefördert werden müssen im Besonderen silvopastorale und andere Agroforstsysteme sowie die ökologisch regenerative Landwirtschaft und die Agrarökologie.
Überflüssigem Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen wollen wir den Riegel vorschieben. Zunächst wollen wir die Möglichkeiten des WTO-Regimes im Rahmen der EU durch Grenzausgleichsabgaben auf Dünger, Pestizide, Tierfutter und auf andere Importe von homogenisierten Agrarrohstoffen voll ausschöpfen. Langfristig wollen wir aber das WTO-Regime als Ganzes überwinden. Direkte und indirekte Landnutzungsänderungen müssen unterbunden und deren Kosten kurzfristig voll eingepreist werden, während gleichzeitig biokulturell regenerierende Landnutzungen mit höchster Priorität gefördert werden müssen.
Nur auf einer solchen Grundlage hat eine Entwicklungspolitik überhaupt die Chance, Fluchtursachen zu bekämpfen. Unsere entwicklungspolitische Zielsetzung setzt Ernährungssouveränität nominell an erste Stelle. Komplementieren wollen wir diese durch den Aufbau resilienter Strukturen (Gewerbe, Bildung, Gesundheit), die dem Industrialisierungs- und Digitalisierungsmythos eine planetar regenerierende und sozial egalitäre Zukunftsvision angewandt entgegensetzen. So planen wir eine ganzheitlich integrierte Ernährungssystempolitik, die Handel und Landwirtschaft in den Dienst der Bekämpfung von Fluchtursachen und der ökologischen sowie gesundheitlichen Krisen stellt.
Der Autor ist Mitglied von MERA25 Deutschland und hat in den Themenbereichen Landwirtschafts-, Handels- und Entwicklungspolitik zu unserem Grundsatzprogramm beigetragen. Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um ein persönliches Werk des Autors, kein offiziell abgestimmtes Dokument. Der Inhalt entspricht nichtsdestotrotz dem Geist unseres Programms.
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