Russophobie zu Hause wird den Ukrainer:innen nicht helfen

Der Angriff auf russische Kultur und auf Einzelpersonen deckt mehr als nur Heuchelei auf

„Krieg ist so ungerecht und hässlich, dass alle, die ihn führen, versuchen müssen, die Stimme des Gewissens in sich selbst zu ersticken“, schrieb Leo Tolstoi im Winter 1853 in sein Tagebuch.

Letzte Woche, 169 Winter später, kündigte „Netflix“ an, die TV-Adaption von Tolstois Klassiker „Anna Karenina“ angesichts des brutalen Einmarsches von Wladimir Putin in die Ukraine auszusetzen. Trotz seines prinzipienfesten Pazifismus hatte Tolstoi den unverzeihlichen Fehler begangen, Russe zu sein.

Andere längst verstorbene Künstler:innen und Intellektuelle wurden auf ähnliche Weise bestraft. Das Cardiff Philharmonic Orchestra strich eines der Werke von Pjotr Iljitsch Tschaikowski aus dem Programm. An der Universität Mailand-Bicocca wurde ein Kurs über Fjodor Dostojewski gestrichen (die Schule machte später einen Rückzieher). Am verwirrendsten war, dass eine Statue des Deutschen Friedrich Engels in Manchester zum Zentrum einer Kontroverse wurde. Leider konzentriert sich der russophobische Wahnsinn jedoch vor allem auf die Lebenden.

Russische Filme wurden von Festivals ausgeschlossen. Bei der Eurovision wurden russische Auftritte verboten. Russischen Musiker:innen wurden ihre Konzerte abgesagt, obwohl sie gegen die Invasion eintreten. Sogar russischen Katzen wurde gesagt, sie seien bei Wettbewerben nicht mehr willkommen.

Einige dieser Maßnahmen wurden mit angeblichen Verbindungen zwischen Einzelpersonen und dem Kreml gerechtfertigt – aber selbst dann ist die Realität undurchsichtiger, als sie auf den ersten Blick erscheint. Das Glasgow Film Festival begründete seine Entscheidung, zwei russische Filme nicht zu zeigen, mit der Tatsache, dass sie vom russischen Kulturministerium gefördert wurden. Andere mit öffentlichen Geldern finanzierte Produktionen wie Andrey Zvyagintsevs Leviathan sind jedoch äußerst kritisch gegenüber der russischen Gesellschaft und dem russischen Establishment. Leviathan wurde 2014 unter allgemeinem Beifall veröffentlicht, und erhielt auf westlichen Festivals mehrere Auszeichnungen.

Noch beunruhigender jedoch sind  die zahlreichen Berichte über weniger sichtbare Diskriminierungen in Europa seit Beginn des Krieges. Menschen wurden auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln angegriffen. Kinder wurden in der Schule geschlagen und gedemütigt. Ein Molotowcocktail wurde durch den Eingang einer deutsch-russischen Schule in Berlin geworfen.

Einige Elemente der Gesellschaft scheinen die Botschaft, die derzeit von deren Institutionen ausgesandt wird, aufgegriffen und beschlossen zu haben, ihr eine direktere Wendung zu geben. Diese Angriffe, die von Kommentator:innen und der breiten Öffentlichkeit weitgehend verurteilt werden (wenn darüber berichtet wird und sie eingestanden werden), sind jedoch die natürliche Folge des geschaffenen Klimas. Ist die Schwelle zur Diskriminierung erst einmal überschritten, ist es schwierig, den Weg zurück zu finden.

Fremdenfeindlichkeit wird nicht dazu beitragen, den sinnlosen Verlust von unschuldigen Menschenleben in der Ukraine zu stoppen. So wie wir den Menschen in der Ukraine in ihrem Kampf um ihr Land zur Seite stehen, müssen wir uns gegen diese reflexartigen Reaktionen aussprechen, die das Gegenteil dessen darstellen, wofür der Westen zu stehen vorgibt. Sie nähren nur die propagandistischen Behauptungen des Kremls, der Westen sei letztlich einfach nur gegen alles Russische – ein Haufen Moralist:innen, die über die russische Gesellschaft wegen ihrer Vorurteile und angeblichen Vorliebe für Autoritarismus den Kopf schütteln, nur um bei der ersten Gelegenheit Menschen aufgrund ihrer Nationalität und ihres kulturellen Hintergrunds zu verfolgen, wenn die kollektive Stimmung dies ungestraft zulässt.

Doch die derzeitige Welle der Fremdenfeindlichkeit offenbart mehr als bloße Heuchelei. Der Westen ist, wie der amerikanische Russlandforscher Stephen Kotkin kürzlich argumentierte, kein Ort auf der Landkarte, sondern „eine Reihe von Institutionen und Werten“, zu denen nach Kotkins Ansicht Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Achtung des Einzelnen, Vielfalt, und Meinungspluralismus gehören. Wenn wir Menschen allein aufgrund der Tatsache angreifen, dass sie einen russischen Pass besitzen, wenn wir Maßnahmen ergreifen, die gewöhnliche Russ:innen am härtesten treffen, und wenn wir russische Medien verbieten, offenbaren wir eine Weltanschauung, die letztlich überhaupt nicht durch diese Werte definiert wird. Es ist eine von Konflikten geprägte  Weltanschauung: Es sind aber keine Konflikte, bei denen wir Verbündete und Feind:innen durch Ethik, Klasse, oder politischen Kämpfen definieren – sondern solche, welche die Seiten nach Rasse, Ethnie, und Sprache aufteilen.

Es gibt Namen für eine solche Weltanschauung. Diejenigen, die eine Auffrischung nötig hätten, täten gut daran, einen Blick auf sie zu werfen.

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