von Johannes Bohun
(Der Artikel ist eine stark gekürzte Version eines längeren Textes. Die komplette Version findet sich online hier.)
Mittlerweile sind in ganz Europa die politischen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu spüren. Anfangs mochten die staatlichen Maßnahmen, die in den letzten zwei Wochen erlassen wurden, einigen Menschen als übertrieben erscheinen. Doch sehr rasch wurde immer mehr Leuten klar: Die Maßnahmen sind notwendig, um zumindest eine theoretische Chance zu haben, die virale Bedrohung einigermaßen in Schach zu halten. Und siehe da: Genau hier und jetzt wird die existenzielle Frage: „Was ist wichtiger – Profit oder Überleben?“ – zumindest in Europa – zugunsten des Überlebens beantwortet. Eine Reaktion, die in unserer politischen Kultur eine geradezu unerhörte Ausnahme darstellt:
Die Wirtschaft steht still, Menschen bleiben zuhause, werden in Zwangsurlaub, Kurzarbeit, Home-Office, oder auch in die Arbeitslosigkeit geschickt, während vor allem Angehörige der systemrelevanten Berufsgruppen heldenhaft an ihren Arbeitsstätten ausharren.
Die Börsen ächzen, doch der Planet atmet auf. Es ist, als wäre jeder Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes gezwungen, innezuhalten, und die Realität aus einem neuem Blickwinkel zu betrachten. Es herrscht eine ungewöhnliche Ruhe auf den Straßen, während die Wirtschaftsmaschinerie weitgehend stillsteht und von Regierungsseite Hilfspakete in Marshallplan-Dimensionen geschnürt werden.
Wir erleben tatsächlich einen drastischen Paradigmenwechsel: Überleben ist nun offiziell wichtiger als das Brummen der Megamaschine, wichtiger als Profit und Rendite. Und mehr noch: Auf wissenschaftlichen Fakten beruhendes Handeln der politischen Eliten scheint – zumindest auf Zeit – soeben die globale Norm geworden zu sein. Politische Leitlinien werden den Tatsachen hintangestellt – ohne Schielen auf die Wiederwahl. Wie Dominosteine scheinen die Tabus zu fallen.
„Die Menschen können sich eher das Ende der Welt vorstellen, als das Ende des
Kapitalismus“
schrieb Fredric Jameson 1994. COVID-19 kurbelt nun die kollektive Imagination neu an. Das zeitweilige Einfrieren des Status Quo erweist sich auf einmal als absolut machbar, ja sogar notwendig, um eine pandemische Katastrophe zu verhindern. Zum Vorschein kommt dabei, welch erdrückenden Anteil die Ideologie am alltäglichen globalen Normalbetrieb hat.
Die vier sozusagen machiavellistischen Gebote, die das Herzstück der neoliberalen Ideologie bilden, wurden in den letzten Tagen in Windeseile gebrochen – zum Wohl der Allgemeinheit.
#1 Nulldefizit über alles
Der Fetisch Nulldefizit ist Geschichte. Plötzlich gilt: Geld darf gedruckt werden, wenn es gebraucht wird. Besorgten Stimmen, wie das Geld zurückgezahlt werden soll, darf geantwortet werden: Geld- und Steuersysteme sind nicht gottgegeben, sondern menschengemacht. Sie zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus demokratisch und lebenszentriert zu gestalten – dazu bietet COVID-19 eine Gelegenheit, die zu versäumen unabsehbare Folgen für das Überleben auf diesem Planeten haben könnte.
Warum? Weil eine Pandemie das zustande gebracht hat, was Millionen von Klimaaktivisten nicht vermochten: Die Rendite-Megamaschine im Namen des Überlebens zu stoppen.
#2 There’s no such thing as society
Auch Margret Thatchers Dogma wird nun Lügen gestraft: Nie wurde derart global Solidarität und Selbstbeschränkung zum Wohle der Allgemeinheit von staatlicher Seite verordnet. Es handelt sich um dieselben einschneidenden Veränderungen im alltäglichen Tun, die unumgänglich sein werden, um auch der Klimakrise Herr zu werden. Nur durch diese Selbstbeschränkung im Verbrauch von Biokapazität wird Klimagerechtigkeit realisiert werden können. Nie war so offensichtlich: Das individuelle Wohl und das Gemeinwohl sind zwei Seiten einer Medaille. Denn: wir haben nicht drei Planeten, sondern nur einen.
COVID-19 lehrt uns: Es gibt so etwas wie Gesellschaft, eine Gesellschaft, die aus Schwächeren und Stärkeren, aus Gesünderen und weniger Gesunden besteht. Die Starken und Gesunden werden nun angehalten, ihre eigene Freiheit (sich nach Belieben zu bewegen) zugunsten der Freiheit der Schwachen und Kranken (zu überleben) zu beschränken.
Mehr denn je bietet sich jetzt einer ganzen Kultur der Moment zu erkennen,
• dass ein Leben ohne Konsum als Freizeitbeschäftigung durchaus lebenswert sein kann,
• dass Gesellschaft nicht nur national, sondern über alle Grenzen hinweg existiert,
• dass nicht nur innerhalb der Staatsgrenzen auf die Schwachen und Kranken Rücksicht zu nehmen ist, sondern auch über diese hinweg,
• dass die eigene Freiheit dort endet, wo die des anderen beginnt.
COVID-19 lehrt uns, dass der Taschenspielertrick der Iron Lady nicht mehr funktioniert. Denn es gibt Gesellschaft und wird sie immer geben.
#3 Glaub der Wissenschaft nur, wenn sie dich kein Geld kostet
Plötzlich haben wissenschaftliche Fakten Vorrang gegenüber marktwirtschaftlichen Dogmen. Alle Welt bittet die UNO-Gesundheits-Organisation WHO verzweifelt um Rat, wie mit der Corona-Krise am besten umzugehen sei. Und das bedeutet auch und vor allem eine Antwort auf die Frage wie mit einer exponentiellen Kurve umzugehen ist. Denn auf einmal ahnt man in den Ministerien und Staatskanzleien, dass so eine exponentielle Kurve etwas ganz schön Gefährliches sein kann. Und nach der Logik einer exponentiellen Kurve vermehren sich nicht nur Corona-Viren, sondern auch jene Dinge, die Treibhausgase in die Luft blasen:
Globales BIP, Primärenergieverbrauch, weltweiter Gütertransport, CO2-Gehalt in der Luft, Temperatur an der Erdoberfläche, Verlust der Regenwälder, Rückgang der
Biosphäre– sie alle weisen dieselbe steil nach oben zeigende Kurve auf, die auch den Anstieg der Corona-Virus-Infektionsrate auszeichnet.
„When you’re dealing with exponential growth, the time to act is when it
feels too early.“
Paul Graham
Überlebt das Vertrauen in die Wissenschaft nicht COVID-19, dann wird auch der Klimakollaps unausweichlich sein. Wir müssen das IPCC genauso ernst nehmen wie die WHO.
#4 Leugne stets die Macht der Medien
Ohne die Hartnäckigkeit der Medien wäre es in zahlreichen Ländern vermutlich erst viel zu spät zu drastischen Maßnahmen gekommen. Tatsächlich können Medien entscheidenden Einfluss auf die Art und Weise nehmen, wie beispielsweise Kriege offengelegt oder vertuscht, Menschenrechtsverbrechen aufgedeckt oder vergessen, Missstände aufgezeigt oder schöngeredet werden. Egal ob es sich um den Irakkrieg, die Panama Papers oder Nestlés Kinderarbeiter handelt. Auch wenn dies ungern zugegeben wird: Es gehört zum Handwerk
erfolgreicher policy makers sich der Medienklaviatur zu bedienen.
Im Falle der Klimakrise waren sich die Medien in den letzten Monaten jedenfalls viel weniger einig als bei der COVID-19-Krise. Mögen die Medien nach Corona genauso „übertreiben“, wenn es um die Notwendigkeit drastischer Maßnahmen gegen die exponentielle Wachstums- und Klimaverschlimmerungskurve geht, wie sie es getan haben, um vor der
exponentiellen Corona-Infektionskurve zu warnen. Mit größerer Wahrscheinlichkeit wird dann das Kräftedreieck von engagierter Zivilgesellschaft, einsichtigen Volksvertreter*innen und hartnäckigen Medien stark genug sein, um dem drohenden Klimakollaps genauso entschlossen, faktenbasiert und klarsichtig entgegenzutreten, wie es nun angesichts der COVID19-Krise der Fall ist.
Bildrechte: Don´t panic by Michael Kowalczyk (CC BY-SA 2.0)
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