Weltflüchtlingstag: Die jüngste Tragödie im Mittelmeer muss ein Wendepunkt in der EU-Migrationspolitik sein

Die jüngste Katastrophe im Mittelmeer muss ein Wendepunkt in der EU-Migrationspolitik sein. Letzte Woche kam es auf der tödlichsten Migrationsroute der Welt zu einem der schlimmsten Schiffsunglücke der letzten Zeit. Mit schätzungsweise 750 Menschen an Bord wurden 78 Menschen offiziell für tot erklärt, obwohl es nur 104 Überlebende gab.

Der Fischtrawler, der sich auf dem Weg von Libyen nach Italien befand, kenterte und sank 80 Kilometer vor Griechenland, während er von Frontex überwacht und von der Küstenwache und privaten Schiffen begleitet wurde, die die einzig bekannte Hilfe leisteten. Die Berichte sind widersprüchlich und verwirrend: Hat das Schiff Hilfe abgelehnt oder wurden Notrufe abgesetzt und an die Behörden weitergeleitet? Welche Hilfe wurde angeboten? Wussten die Menschen an Bord, dass die griechischen Streitkräfte in der Vergangenheit auf Migrant:innen geschossen, sie verprügelt und im Meer zurückgelassen haben? Hat die griechische Küstenwache den Schiffsuntergang tatsächlich verursacht? War es ihre Pflicht, Menschen in Seenot ohne Verzögerung zu retten?

Wir wissen, dass die meisten Menschen auf dem Schiff und die meisten anderen, die die Überfahrt wagen, aus ehemaligen europäischen Kolonien stammen, die sich nie ganz von dieser Vergangenheit erholt haben und derzeit unter autoritärer Herrschaft, der Klimakatastrophe und Kriegen leiden. Unabhängig davon, ob sie vor staatlicher Verfolgung fliehen oder nicht, sind sie auf der Suche nach einer besseren Zukunft, und die EU hat es versäumt, ihnen sichere und legale Einreisemöglichkeiten zu bieten.

Wir wissen auch, dass neun Ägypter verhaftet und wegen Massenmordes angeklagt werden. Politik, Medien und Öffentlichkeit werden sich auf den Menschenhandel, die Verfolgung krimineller Banden und die weitere Abschiebung konzentrieren. Irgendwie sind die über 2.700 Menschen, die 2022 bei dem Versuch, dieselbe Grenze zu überqueren, ums Leben kamen, und die geschätzten 1.039, die Anfang dieses Jahres ertranken, bereits vergessen.

Inmitten des öffentlichen Aufschreis sind die Politiker:innen in eine Phase der zur Schau gestellten Trauer eingetreten, haben Kampagnen ausgesetzt und leere Erklärungen über weitere Untersuchungen, Ermittlungen und die Suche nach Überlebenden abgegeben, die nie gefunden werden.

Das eigentliche Problem ist die EU-Politik: Sie ist tödlich für die Migrant:innen und ungerecht für die Länder der Ersteinreise, zumeist Italien und Griechenland, wohin die meisten Asylbewerber:innen immer noch zurückgeschickt werden. Die finanzielle Unterstützung, die sie erhalten, ist ein Bruchteil dessen, was sie ausgeben, und die derzeitige operative Zusammenarbeit gleicht die Differenz nicht aus. So verzögern sie Such- und Rettungsaktionen und behindern die Rettungsschiffe der Seenotrettung. Italien schränkt das Ablegen der Schiffe stark ein und beschlagnahmt Rettungsschiffe, Griechenland drängt die Menschen illegal in die Türkei zurück. Das Budget von Frontex ist seit 2006 um das 27 fache gestiegen. Unter dem Einfluss der Rüstungsindustrie schlägt die EU eine Verdreifachung der Mittel für Grenzen, Migration und Asyl vor (auf 9,3 Mrd. Euro), die nun im Rahmen der überarbeiteten kollektiven Sicherheitsagenda der Verteidigung zugeordnet werden.

Insgesamt bewegt sich die EU auf eine weitere Verschlechterung zu, da immer mehr Mitgliedstaaten das Recht auf Asyl nicht aufrechterhalten und den Zugang zu fairen und umfassenden Bestimmungsverfahren schwächen. Sie errichten weiterhin Zäune an den Land- und Seegrenzen, führen Pushbacks durch und machen eine Umsiedlung fast unmöglich. In der gesamten EU schadet die unzureichende Aufnahme der Gesundheit, verhindert die soziale Teilhabe und untergräbt die wirksame Ausübung des Rechts auf Asyl.

Das „Nicht-System“, in dem Niedriglohnjobs in der Landwirtschaft, in der Industrie und im Dienstleistungssektor von einer Mischung aus regulären und irregulären Migrant:innen ausgeübt werden, bleibt bestehen. Da ihre Qualifikationen nicht anerkannt werden und sie mit Sprachbarrieren konfrontiert sind, sitzen selbst hochqualifizierte Menschen in der Falle prekärer Arbeitsverträge.

Schlimmeres könnte noch bevorstehen. Im April billigte das Europäische Parlament den Neuen Pakt zu Migration und Asyl und machte damit den Weg frei für die Verhandlungen der Abgeordneten mit den EU-Minister:innen über die endgültigen Gesetze bis April 2024, kurz vor den Europawahlen. Die Hauptelemente des Pakts sind Externalisierung, Grenzverschärfung, Inhaftierung, schnelle Abschiebung und Kriminalisierung. Obwohl die wichtigsten Schlagworte geteilte Verantwortung und Solidarität sind, wird das Kriterium der Verantwortung des ersten Einreisestaates beibehalten und auf Personen ausgedehnt, die nach einer Such- und Rettungsaktion ausgeschifft werden. Die Antragsteller:innen haben keine Wahl, sie müssen ihren Antrag im ersten Mitgliedstaat stellen, in den sie einreisen, dort bleiben, bis ihr Status geklärt ist, und ihre Leistungen verlieren, wenn sie ausreisen.

Die Grenzstaaten sind nun verpflichtet, alle irregulären Migrant:innen während der Vorabkontrolle fünf Tage lang (bzw. zehn Tage in Krisensituationen) in Gewahrsam zu nehmen. Danach wird ihnen ein Asylverfahren zugewiesen (in der EU oder an der Grenze), sie werden einem Abschiebeverfahren zugeführt (in der EU) oder ihnen wird die Einreise verweigert und sie werden abgeschoben, ohne dass sie das Recht haben, Rechtsmittel einzulegen oder andere rechtliche Garantien zu erhalten. Die Vorabkontrolle gilt auch für irreguläre Migrant:innen, die sich bereits in der EU aufhalten. Sie können festgenommen und drei Tage lang ohne Rechtsbeistand oder das Recht, mit jemandem Kontakt aufzunehmen, inhaftiert werden. Frontex wird zum operativen Arm der Abschiebepolitik ausgebaut.

Wenn der Antrag von Migrant:innen nach drei Monaten (bzw. zehn Monaten in Krisensituationen) noch nicht abgeschlossen ist, dürfen sie in die EU einreisen, müssen aber drei Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit und zwei Überstellungen durchlaufen, bevor ihnen ein Asylverfahren gewährt wird. Wird ihr Asylantrag abgelehnt, werden sie während des Abschiebeverfahrens an der Grenze bis zu 3 Monate lang inhaftiert. Danach werden sie in der EU gemäß der Abschieberichtlinie bis zu 18 Monate in Gewahrsam genommen. Sie haben weder das Recht auf eine gerichtliche Überprüfung noch auf Zugang zu Anwält:innen oder humanitären Akteur:innen, die jenseits der Grenze tätig sind.

Über die Inhaftierung hinaus untergräbt der neue Pakt das individuelle Recht auf Asyl weiter, indem er je nach Herkunftsland unterschiedliche Standards für Grenzverfahren einführt. Er ignoriert die nationalen Rechtsvorschriften von mehr als der Hälfte der Mitgliedstaaten, die andere Schutzmaßnahmen (aus medizinischen, familiären oder humanitären Gründen) vorsehen und Aufenthaltsgenehmigungen oder Regularisierungsverfahren gewähren. Außerdem werden die Bedürfnisse von Kindern außer Acht gelassen: Nur unbegleitete Minderjährige müssen angemessen geschützt und ihr Wohl muss berücksichtigt werden.

Jetzt ist es an der Zeit, sich dieser Gesetzgebung zu widersetzen. Die Migration liegt im Interesse Europas. Anstatt Migration zu kriminalisieren, brauchen wir eine humane Politik, die sichere und legale Einreisewege auf der Grundlage der EU-Grundrechtecharta bietet, zu der auch das Recht gehört, Asyl zu beantragen. Wir müssen dem beschämenden Verlust von Menschenleben im Mittelmeer Einhalt gebieten, und dafür brauchen wir ein faires, menschenrechtsbasiertes, zugängliches und gut finanziertes System mit echter Solidarität und gemeinsamer Verantwortung.

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