„Innerhalb unseres gegenwärtigen oligarchischen, ausbeuterischen, irrationalen und unmenschlichen Weltsystems wird der Aufstieg von Krypto-Anwendungen unsere Gesellschaft nur noch oligarchischer, ausbeuterischer, irrationaler und unmenschlicher machen.“ – Yanis Varoufakis
Es gibt nur wenige Menschen, die sich – in einem einzigen Interview! – so kompetent über den Aufstieg der NFTs und ihre Ursprünge in den virtuellen Welten der Spiele, die Logik des entstehenden Regimes des Techno-Feudalismus und die Torheit der Bitcoin-lastigen Verhandlungstaktik El Salvadors mit dem IWF äußern können. Glücklicherweise haben wir diese Person in Yanis Varoufakis gefunden, dem prominenten Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und öffentlichen Intellektuellen, der obendrein ehemaliger griechischer Finanzminister ist. Yanis war so freundlich, uns ein ausführliches Interview zu gewähren, das einen umfassenden (und bisweilen recht kritischen) Überblick über die Vorgänge an der Schnittstelle zwischen Geld, Makroökonomie und dem Digitalen bietet.
~ Evgeny Morosov
Anfang der 2010er Jahre, vor Ihrer Tätigkeit in der griechischen Regierung, arbeiteten Sie als hausinterner Ökonom für Valve, ein bekanntes Spieleunternehmen. Inwiefern waren Ihre Fähigkeiten als Wirtschaftsexperte für Spieltheorie nützlich, um die Wirtschaft virtueller Welten zu analysieren? Und welche Einblicke in das Innenleben der realen Wirtschaft haben Sie durch diese Erfahrung gewonnen?
Vor zehn Jahren war das Metaverse in den Spielgemeinschaften bereits in vollem Gange. Die Spiele von Valve hatten bereits so große Erfolge erwirtschaftet, dass Valve sowohl begeistert als auch erschrocken war. Einige digitale Güter, die zuvor kostenlos (über die Drops des Spiele) verteilt worden waren, wurden auf eBay für Zehntausende von Dollar gehandelt, lange bevor irgendjemand an NFTs gedacht hatte.
Was wäre, wenn die Preise für diese spontan lukrativen Gegenstände und Aktivitäten einbrechen würden? Das war es, was die Leute bei Valve nachts wach hielt. Das geht aus der E-Mail hervor, mit der man sich an mich wandte: „Ich verfolge Ihren Blog schon eine Weile… In meinem Unternehmen diskutierten wir über die Verknüpfung von Volkswirtschaften in zwei virtuellen Umgebungen (Schaffung einer gemeinsamen Währung) und ringen mit einigen der heikleren Probleme der Zahlungsbilanz, als mir einfiel: ‘Das ist Deutschland und Griechenland’ – ein Gedanke, der mir nicht gekommen wäre, wenn ich nicht Ihren Blog verfolgt hätte.”
Die Gründe für meine Beteiligung waren vielfältig. Einer war die Aussicht, eine Wirtschaft als allwissender Forscher zu studieren: Da ich Zugang zu allen Daten in Echtzeit haben würde, brauchte ich keine Statistiken! Ein anderer war die Verlockung, „Gott“ zu spielen, d.h. mit diesen digitalen Volkswirtschaften Dinge tun zu können, die kein Wirtschaftswissenschaftler in der „echten“ Welt tun kann, z.B. Regeln, Preise und Mengen zu ändern, um zu sehen, was passiert. Ein weiteres Ziel war es, empirisch gestützte Erzählungen zu schmieden, die die Grenze zwischen der „realen“ und der digitalen Wirtschaft überwinden.
Was habe ich damals gelernt? Die wichtigste Erkenntnis war, dass das beobachtete Verhalten einige neoliberale Schlüsselphantasien völlig widerlegt hat: Der Tauschhandel weicht nicht einem soliden Geld in Form eines digitalen Goldsimulakrums. (N.b. Wir haben festgestellt, dass verschiedene Waren/Güter um die Vorherrschaft als Standardgüter konkurrieren, ohne jemals zu dominieren.) Selbstlosigkeit ist immer vorhanden (was sich in umfangreichen, doppelt anonymen Schenkungen zeigt). Es entstehen soziale Beziehungen (selbst in diesen gesichtslosen digitalen Welten), die dann Preise und Mengen auf eine Weise „infizieren“, die wenig mit der neoliberalen Sichtweise von Tauschwerten zu tun hat, die in einem politischen und moralischen Vakuum entstanden ist.
Heute, ein Jahrzehnt später, ist klar, dass Spiele-Communities wie die, die ich bei Valve studiert habe, als vollwertige Metaversen (um Zuckerbergs Begriff zu verwenden) funktionieren. Die Spieler:innen wurden durch das Spiel angezogen, aber wenn sie erst einmal “drin” waren, blieben sie, um einen großen Teil ihres Lebens hier zu verbringen, Freundschaften zu schließen, Waren für den Verkauf zu produzieren, Unterhaltung zu konsumieren, zu debattieren, usw. Zuckerbergs Ziel ist es, seine Milliarden von Facebook-Nutzer:innen, die keine Spieler:innen sind, in eine Steam-ähnliche digitale Sozialwirtschaft einzubinden – komplett mit einer von ihm kontrollierten Plattformwährung. Wie könnte ich mich der Parallele zu einem digitalen Lehnswesen entziehen, in dem Zuckerberg davon träumt, der Techno-Lord zu sein?
NFTs sind derzeit in aller Munde. Ihr rasanter Aufstieg lässt sich auf CryptoKitties zurückführen, ein Blockchain-basiertes Computerspiel, das 2017 auf den Markt kam. Inzwischen gibt es auch viele Spieler:innen, die sich gegen NFTs und die eher problematischen Eigentumsvorstellungen, die sie verankern, aussprechen. War so etwas wie NFTs während Ihrer Zeit bei Valve bereits absehbar? Glauben Sie, dass NFTs unsere Vorstellungen von Eigentum, Knappheit und Entlohnung in einer Weise verändern werden, die für das breitere progressive Projekt hilfreich sein könnte? Dies ist jedenfalls die Überzeugung einiger Befürworter von Web3.
Hüte in TF2! Team Fortress 2 (oder TF2) Spieler:innen waren besessen von digitalen Hüten. Ursprünglich waren sie Teil der kostenlosen Drops, später wurden einige Hüte, die nicht mehr hergestellt wurden, zu Sammlerstücken. Die Spieler:innen begannen, innerhalb des Spiels zu tauschen (z.B. Ich gebe dir zwei Laserkanonen für diesen einen Hut von dir). Wenn dann die Nachfrage nach einem Hut groß genug war, verließen die Spieler:innen das Spiel, trafen sich auf eBay, tauschten den Hut gegen (manchmal) Tausende von Dollars ein und kehrten schließlich ins Spiel zurück, wo die Verkäufer:in den Hut an die Käufer:in übergab. Man beachte das unglaubliche Maß an Vertrauen zwischen Fremden, das diese Transaktion mit sich brachte: Die Verkäufer:in hätte sowohl das Geld als auch den Hut mitnehmen können. Valve beschloss, den Bedarf an so viel Vertrauen zu verringern, auf eBay zu verzichten und auch noch einen ordentlichen Gewinn zu machen, indem es Handelsräume im Spiel einrichtete (d.h. einen spielinternen Markt für digitale Gegenstände, der Valve gehört und von ihm überwacht wird).
NFTs unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht von digitalen Vermögenswerten wie den Hüten in TF2: Die Blockchain lässt das Unternehmen (z.B. Valve) außen vor. Und sie erlaubt es dem digitalen Vermögenswert, aus dem Spiel/Reich, das ihn hervorgebracht hat, in jedes andere digitale Reich zu emigrieren.
Ob ich glaube, dass NFTs subversives Potenzial haben? Schauen wir mal. In einer digitalen Umgebung sind NFTs wie alle anderen Waren. Sie spiegeln den Triumph des Tauschwerts (mit dem der Kapitalismus den Erfahrungs- oder Gebrauchswert besiegt hat) innerhalb eines Metaversums (wie bei Valve oder Zuckerberg) wider. In diesem Sinne bieten NFTs in digitalen Welten nichts Neues, außer vielleicht, dass sie die Ideologie des Kapitalismus (der Tauschwert hat die Oberhand) in die Höhe treiben. In der analogen Welt haben NFTs nur insofern einen Wert, als dass sie denjenigen, die sich für sie interessieren, einen Nutzen bieten, mit dem sie angeben können. Auch wenn sie auf diese Weise Unternehmen wie Sotheby’s und Christie’s (die früher das Monopol auf den Handel mit Angeberrechten hatten) dazu zwingen, ihre Methoden zu ändern, untergraben NFTs in keiner Weise die Struktur der Eigentumsrechte, die die exorbitante Macht der Oligarchie über viele Menschen begründen und untermauern.
Also nein, ich sehe wenig radikales Potenzial für NFTs. Allerdings könnte eine gute, zukünftige, liberale techno-kommunistische Gesellschaft Wege finden, sie als Teil eines breiten Netzwerks von Technologien zu nutzen, die uns helfen, unsere Identitäten, unser Eigentum usw. zu erfassen.
Solange wir nicht über diese mechanischen Sklaven verfügen, die für die Menschheit als Ganzes sorgen (und nicht nur Waren produzieren, die den 1 % der 1 % gehören), ist die Vorstellung, dass die Menschen jetzt wie Roboter spielen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, damit sie in ihrer Freizeit menschlich sein können, in der Tat die Apotheose der Misanthropie.
Es wurde viel darüber berichtet, dass in einigen Ländern des globalen Südens (z. B. auf den Philippinen) Blockchain-basierte Spiele wie Axie Infinity eine Parallelwirtschaft schaffen, die es den Spieler:innen ermöglicht, virtuelle Token – deren Wert in letzter Zeit in die Höhe geschossen ist – in Fiatgeld einzulösen. Der Gründer von Reddit zum Beispiel hat kürzlich behauptet, dass alle zukünftigen Spiele diesem Spiel-zum-Verdienen-Modell folgen werden, und sagte außerdem, dass „90 % der Menschen kein Spiel spielen werden, wenn sie nicht angemessen für diese Zeit entlohnt werden“. Was ist hiervon zu halten? Ist es eine weitere Dystopie des globalen Kapitalismus? Oder ist es eine kleine Verbesserung gegenüber der Ausbeuterarbeit, vielleicht die Folge der globalen Pandemie, die viele Menschen zu Hause beim Spielen festhält?
Als ich vor zehn Jahren bei Valve arbeitete, gab es Tausende von jungen Leuten in China, Kasachstan und anderswo, die mit der Bereitstellung von Dienstleistungen für Mitglieder der Spiele-Communities von Valve ein Vermögen verdienten. Begabte Spieler:innen verdienten gutes Geld, bezahlt von anderen Spieler:innen, die ihnen beim Spielen zusehen wollten. Die Idee einer Parallelwirtschaft, die es Menschen in ärmeren Ländern oder Regionen ermöglicht, beim Spielen oder durch das Anbieten von Dienstleistungen im Spiel Geld zu verdienen, ist also nicht neu.
War das eine gute oder eine schlechte Sache? Natürlich war es gut für einen jungen Menschen in Shenzhen, der es geschafft hat, 60.000 Dollar im Jahr mit dem Entwerfen digitaler Hüte an seinem PC zu verdienen – anstatt seinen Körper in einem Sweatshop zu zerstören. Die Frage ist jedoch die: Könnten alle Arbeiter:innen in Shenzhen (und darüber hinaus) aus den Sweatshops gerettet werden, indem sie in ein Metaversum abwandern? Die Antwort lautet: Nicht bevor wir Roboter haben, die für uns alle arbeiten, so dass wir die materiellen Bedingungen unseres Lebens reproduzieren können. Solange wir diese mechanischen Sklaven, die für die gesamte Menschheit arbeiten (und nicht nur Waren produzieren, die den 1 % der 1 % gehören) nicht haben, ist die Vorstellung, dass die Menschen jetzt wie Roboter spielen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, damit sie in ihrer Freizeit menschlich sein können, in der Tat die Apotheose der Misanthropie.
Eine Ihrer Kritiken an Bitcoin als Währung (von der Sie klar sagen, dass sie keine ist und keine sein kann) ist, dass sie den verfügbaren politischen Spielraum einschränkt, so dass es im Falle einer Pandemie nicht möglich sein wird, die Geldmenge zu erhöhen. Ich nehme an, dies gilt auch für das „Gelddrucken“ mit all den perversen Folgen von QE, die Sie selbst an anderer Stelle dokumentiert haben. Wären die Bitcoin-Maximalist:innen nicht zumindest kohärent, wenn sie argumentieren, dass die Unfähigkeit, Geld zu drucken, ein Merkmal des Systems ist und kein Fehler?
Wenn „Bitcoin-Maximalist:innen“, wie Sie sie nennen, über die Unfähigkeit, Geld zu drucken, schwärmen (und diese Unfähigkeit als Merkmal von Bitcoin und nicht als Fehler feiern), dann sind sie furchtbar unoriginell – banal, wage ich zu behaupten. Der Kapitalismus wäre 1929 fast gestorben, und zig Millionen starben in dem darauffolgenden Krieg wegen dieses giftigen Trugschlusses, dem damals der Goldstandard und heute der Bitcoin zugrunde liegt. Welcher Trugschluss? Der Trugschluss vom Teil auf das Ganze, wie John Maynard Keynes ihn nannte.
Dem liegt die Tendenz zugrunde, von der persönlichen Ebene auf die makroökonomische Ebene zu extrapolieren. Zu sagen, dass, wenn etwas gut für mich ist – wenn eine Praxis auf der Ebene meiner Familie, meines Unternehmens etc. vernünftig ist – muss es auch für den Staat, die Regierung, die Menschheit insgesamt gut sein. Z.B.: Ja, Sparsamkeit ist für mich persönlich gut. Wenn ich nicht über die Runden komme, muss ich den Gürtel enger schnallen, sonst werde ich mich immer mehr verschulden. Für eine Volkswirtschaft gilt aber genau das Gegenteil: Wenn der Staat mitten in einer Rezession versucht, den Gürtel enger zu schnallen, um sein Haushaltsdefizit zu beseitigen, dann sinken die öffentlichen Ausgaben bei gleichzeitig sinkenden privaten Ausgaben. Und da die Summe der privaten und öffentlichen Ausgaben dem Gesamteinkommen entspricht, wird die Regierung – ungewollt – die Rezession und, ja, ihr eigenes Defizit verstärken (da die Staatseinnahmen sinken). Dies ist ein Beispiel dafür, dass eine Sache (die Straffung des Gürtels) auf der Mikroebene gut und auf der Makroebene katastrophal ist.
Ähnlich verhält es sich mit Gold, Bitcoin und allen anderen „Dingen“ mit Tauschwert: Wenn Sie Gold besitzen, ist es gut für Sie, wenn dessen Angebot begrenzt und möglichst fixiert ist. Dasselbe gilt für Bitcoin, Silber, Dollar. (N.b. Aus diesem Grund haben sich die Reichen und Mächtigen traditionell gegen eine expansive Geldpolitik gewehrt und bei jeder Gelegenheit „Hyperinflation“ geschrien.) Wenn Sie also in Bitcoin investieren oder sich aus irgendeinem Grund jedes Mal freuen, wenn der Dollarkurs steigt, haben Sie allen Grund zu glauben, dass das algorithmisch festgelegte Angebot eine gute Sache ist, ein Feature. Aber das hat seinen Preis: Eine feste Geldmenge führt zu einer deflationären Dynamik, die in einem System, das dazu neigt, seine Menschen unter-zu-beschäftigen und zu wenig in Dinge zu investieren, die die Gesellschaft braucht (d.h. der Kapitalismus), eine Katastrophe heraufbeschwört.
Der Goldstandard ist in der Tat eine großartige Quelle, um zu verstehen, wie gefährlich primitiv das maximalistische Bitcoin-Denken ist. Angenommen, Bitcoin würde die Fiat-Währungen ablösen. Was würden die Banken tun? Sie würden natürlich Kredite in Bitcoin vergeben. Das bedeutet, dass Überziehungskredite entstehen würden, die es den Kreditgeber:innen ermöglichen würden, Waren und Dienstleistungen mit Bitcoins zu kaufen, die noch nicht existieren. Was würden die Regierungen tun? In Stressmomenten müssten sie an Bitcoin gebundene Rechnungseinheiten ausgeben (wie sie es in der Zwischenkriegszeit unter dem Gold Exchange Standard getan haben). All diese private und öffentliche Liquidität würde eine Boomphase auslösen, bevor es unweigerlich zum Crash kommt. Und dann, wenn Millionen von Menschen ruiniert sind, müssten Regierungen und Banken den Bitcoin aufgeben. Kurz gesagt, genau wie Gold ist Bitcoin eminent… absetzbar (sobald er enormen Schaden angerichtet hat). Anders ausgedrückt: Entweder wird Bitcoin das Fiat-Geld nie ablösen, oder, falls doch, wird er enorme unnötige Schmerzen verursachen (bevor er aufgegeben wird).
Zu glauben, dass man Geld oder den Staat in Ordnung bringen kann, zeugt von einer verheerenden Ahnungslosigkeit gegenüber dem größeren Ausbeutungssystem, in das sie eingebunden sind.
Was ist jedoch mit anderen Kryptowährungen, die sehr ausgeklügelte Operationen und Anreizstrukturen ermöglichen, einschließlich algorithmisch programmierter Umlaufsicherung? Könnte man diese eher als Währungen definieren?
Nein, auch das wird nicht funktionieren. Das Problem mit Bitcoin ist nicht nur sein festes Angebot. Es ist die Annahme, dass die Veränderungsrate der Geldmenge in jedem Algorithmus vorhergesagt und vorhergesehen werden kann. Dass die Geldmenge entpolitisiert werden kann. Es geht also nicht um die Frage, wie ausgeklügelt und komplex der Algorithmus ist. Es geht vielmehr darum, dass ein rein politischer, unwägbarer Prozess nie und nimmer von einem Algorithmus erfasst werden kann. Das kann er nicht und sollte er deshalb auch nicht.
Aufgrund des wachsenden Interesses an Ethereum ist in der Krypto-Gemeinschaft ein merkwürdiges Wiederaufleben des Interesses an Mechanismusdesign und Spieltheorie zu beobachten; in einigen Arbeiten zur Krypto-Ökonomie werden stolz Leonid Hurwicz und Oskar Lange zitiert. Betrachtet man diese im Entstehen begriffene Disziplin jedoch etwas genauer, fällt ihre Schwerpunktsetzung auf: Mikroökonomie ist überall, aber Makroökonomie – abgesehen von einigen österreichischen Kritiken am Fiat-Geld – nirgends, nicht einmal in der orthodoxen Samuelson-Version.
Sie haben den Finger auf den Nagel gelegt. Das ist wieder einmal der Trugschluss vom Teil auf das Ganze: die Vorstellung, dass das, was für einen selbst funktioniert, auch für die Gesellschaft als Ganzes funktionieren muss; dass das, was in der Mikro-Welt Sinn ergibt, auch in der Makro-Welt Sinn ergibt. Krypto-Enthusiast:innen mit festen Ansichten über Geld fallen in diesem Sinne in die Kategorie von Menschen, die Keynes am besten als „ähnlich wie euklidische Geometer in einer nicht-euklidischen Welt“ beschrieben hat. Keynes bezog sich damit auf die klassischen Ökonom:innen, die Geld als eine Ware, als ein Ding betrachteten. Die Krypto-Monetarist:innen wiederholen denselben konzeptionellen Fehler.
Yanis Varoufakis speaking in Moscow, 2015 – source
Seit den Anfängen – d.h. seit den frühen 2010er Jahren – argumentieren Sie, dass „Blockchain eine fantastische Lösung für das Problem ist, das wir noch nicht entdeckt haben. Aber sie ist nicht die Lösung für das Geldproblem“. Aber sind wir so ignorant? Man könnte sagen, dass die Blockchain als ein von der Cypherpunk-Ideologie inspiriertes Projekt schon immer eine Lösung für das Problem des Staates war: Sie verspricht, den Staat aus so unterschiedlichen Bereichen wie dem Recht (mit dem Aufkommen von intelligenten Verträgen) oder der Kunstfinanzierung (mit der Fraktionierung des Eigentums durch NFTs) oder, was am offensichtlichsten ist, dem Zentralbankwesen (mit seiner Kritik am Fiat-Geld) herauszunehmen.
Zu denken, dass Bitcoin das Problem des Geldes oder des Staates lösen kann, bedeutet, falsch zu verstehen, was Geld ist oder was Staaten tun. Jedes ausbeuterische sozio-ökonomische System basiert auf der Frage, was zu tun die Minderheit, die das System betreibt, die restlichen Anderen verleiten kann (wer tut wem etwas an, wie Lenin es berühmt formulierte). Geld und der Staat sind Epiphänomene dieses Systems. Zu glauben, dass man Geld oder den Staat reparieren kann, zeugt von einer verheerenden Ahnungslosigkeit gegenüber dem größeren Ausbeutungssystem, in das sie eingebunden sind. Kein schlauer Vertrag kann z.B. die Arbeitsverträge zunichte machen, die die vielschichtigen Ausbeutungsmuster der Gesellschaft untermauern. Kein NFT kann eine Kunstwelt verändern, für die Kunst eine Ware innerhalb eines Universums von kommerzialisierten Menschen und Dingen ist. Keine Zentralbank kann den Interessen des Volkes dienen, solange sie von den Demos (lokalen Gemeinschaften) unabhängig ist. Ja, Blockchain wird in Gesellschaften nützlich sein, die von der strukturierten extraktiven Macht einiger weniger befreit sind. Aber Blockchain wird uns nicht befreien. In der Tat wird jede digitale Dienstleistung, Währung oder Ware, die innerhalb des gegenwärtigen Systems darauf aufgebaut wird, lediglich die Legitimität des gegenwärtigen Systems reproduzieren.
Angenommen, Sie stehen der Blockchain immer noch positiv gegenüber. Wie vereinbaren Sie diese anti-staatliche Einstellung mit dem, was Sie als ihr Potenzial in einer emanzipierten Gesellschaft sehen? Worin besteht dieses Potenzial genau? Selbst wenn man davon ausgeht, dass sowohl die Spieltheorie als auch das Design von Mechanismen einen gewissen Wert haben, was nützen sie dem progressiven Projekt, wenn sie keine Makroperspektive bieten?
Meine Antwort findet sich in meinem Science-Fiction-Roman Another Now (vor allem in Kapitel 6). Darin stelle ich einen Entwurf für eine postkapitalistische, nicht ausbeuterische Sozialwirtschaft vor. Blockchain wird darin als eine Technologie vorgestellt, die sowohl von Zentralbanken als auch von lokalen Gemeinschaften genutzt wird, um ein öffentliches, verteiltes Hauptbuch für zwei Dinge zu erstellen: Geld, natürlich. Und Pachtverträge für Grundstücke in der Gewerbezone eines Bezirks (die ständig versteigert werden und deren Erlöse zur Erhaltung und Erweiterung der Sozialzone des Bezirks verwendet werden). Daraus können Sie ersehen, dass ich Blockchain und Ethereum-ähnliche Mechanismen als Technologien betrachte, die sich als äußerst nützlich erweisen werden, sobald das Privateigentum an Produktionsmitteln endet. Aber für sich genommen werden uns diese Technologien nicht von der extraktiven Macht der Wenigen befreien.
Sie haben sich selbst als „erratischen Marxisten“ bezeichnet und darauf hingewiesen, dass Sie starke libertäre Tendenzen haben. In Italien, wo ich seit einiger Zeit lebe, gibt es natürlich diese lange Tradition des Autonomen Marxismus, der viele dieser Überzeugungen teilt. Er war schon immer kritisch gegenüber dem Staat und der staatlichen Bürokratie mit ihrer starren, zentralisierten Art, die Gesellschaft zu organisieren. Jetzt scheint es eine neue vielversprechende Lösung für dieses uralte Problem zu geben: DAOs, kurz für dezentrale autonome Organisationen, die versprechen, transparente algorithmische Regeln an die Stelle der Weberschen charismatischen Führer zu setzen. Finden Sie an solchen neuen institutionellen Formen etwas Wertvolles? Oder ähneln sie dem technokratischen Credo – mit seinem Glauben, dass politische Probleme durch die Entwicklung cleverer Mechanismen und Anreize gelöst werden können – und das sie angeblich bekämpfen wollen?
Karl Marx war erratisch. Er änderte ständig seine Meinung und verärgerte damit seine Freund:innen und Mitstreiter:innen. Er schrieb wütende Ablehnungen seiner früheren Ideen. Und er konnte diejenigen nicht ausstehen, die sich selbst … Marxist:innen nannten (z.B. sagte er bekannterweise: „Wenn sie Marxisten sind, bin ich es nicht“). Ich habe ich mich also selbst als „erratischen Marxisten“ bezeichnet, um zwei Dinge auszudrücken: Dass ich nicht dogmatisch bin. Und dass ich nicht mit jenen „offiziellen“ Marxist:innen übereinstimme, die ihre persönliche Macht aus einer dogmatischen Bewahrung des Marxschen Denkens beziehen. Ich bin sogar noch einen Schritt weiter gegangen und habe mich selbst als „libertären Marxisten“ bezeichnet – eine Selbstbeschreibung, die von mehreren Libertären und den meisten Marxist:innen sofort verspottet wurde. Meine Begründung? Wie die von Ihnen erwähnten Anarchosyndikalist:innen in Spanien und die Autonomen Marxist:innen in Italien sehe ich nicht ein, wie man die Freiheit wirklich hochhalten und den Kapitalismus tolerieren kann. Und auch: wie man gleichzeitig illiberal und links sein kann.
Was die DAOs betrifft, so muss ich sagen, dass ich sie mit Sympathie betrachte. Aber auch hier bin ich, wie bei meiner Haltung zur Blockchain, überzeugt, dass es sich um Werkzeuge handelt, die sehr nützlich sein werden, sobald eine breite internationalistische Bewegung die Eigentumsrechte der Oligarchie an den Produktionsmitteln (einschließlich der Cloud-Server!) stürzt. Wie ich in meinem “Another Now” zu skizzieren versuche, wird eine digitale anarcho-syndikalistische Zukunftsgesellschaft viele dieser DAO-ähnlichen Werkzeuge nutzen. Aber, und das ist ein gigantisches Aber, DAO-ähnliche Werkzeuge werden diese neue Gesellschaft, in der DAO-ähnliche Werkzeuge nützlich sind, nicht herbeiführen. (N.b. Wir können bereits sehen, wie DAOs von Regressiven und Immobilienmogul:innen in den Vereinigten Staaten usurpiert werden.)
Innerhalb unseres derzeitigen oligarchischen, ausbeuterischen, irrationalen und unmenschlichen Weltsystems wird der Aufstieg von Krypto-Anwendungen unsere Gesellschaft nur noch oligarchischer, ausbeuterischer, irrationaler und unmenschlicher machen.
Wenn ich den Krypto-Raum von der Seitenlinie aus beobachte, habe ich den Eindruck, dass viele der alten neoliberalen politischen Ideen zurückkehren. Ich denke dabei vor allem an den Einsatz von marktbasierten Instrumenten im Kampf gegen den Klimawandel: Plötzlich verspricht die Blockchain, viele Ideen im Zusammenhang mit natürlichen Ökosystemleistungen wiederzubeleben, während der Aufstieg von oft anonymen Aktivist:innenorganisationen wie KlimaDAO dazu beigetragen hat, den einst schwächelnden Markt für Kohlenstoffemissionen zu beleben. Infolgedessen ist der Ruf des Marktes als Problemlösungsinstrument wiederhergestellt, wenn auch nur vorübergehend. Wie sollten Progressive auf solche Entwicklungen reagieren? Besetzen diese Krypto-Projekte, die versprechen, den Klimawandel durch Finanzen umzukehren, den leeren Platz der Aktivist:innen, der eigentlich von den Zentralbanken hätte besetzt werden sollen, bevor sie durch die Ratschläge von BlackRock abgelenkt wurden? Was sollten die Zentralbanken in Bezug auf diese Achse zwischen grüner Technologie und Finanzwesen tun?
Das ist genau mein Punkt. Im Namen der Befreiung von Mogul:innen, Staaten und sogar dem Klimawandel treiben die Krypto-Eiferer die Ideologie der Kommerzialisierung (d.h. den Neoliberalismus) in die Höhe. Was sollten wir tun? Das einzige, was funktionieren wird, ist: Die Übernahme der Parlamente, um ein Gesellschaftsrecht zu erlassen, das die Handelbarkeit von Aktien abschafft und stattdessen das Prinzip „eine Aktie – eine Mitarbeiter:in“ einführt. Die Übernahme der Zentralbanken, damit diese digitale Währungen auf einem verteilten Hauptbuch ausgeben werden, das ein Grundeinkommen ermöglicht. Die Übernahme der Regierungen und die Einführung des persönlichen Eigentums an unseren Daten. Kurzum, kein Algorithmus wird die Notwendigkeit einer echten Revolution aufheben.
Eine der interessanten Folgen der anhaltenden Währungskrise in der Türkei ist die wachsende Beliebtheit von Stablecoins wie Tether in der türkischen Bevölkerung. Dies ist umso bemerkenswerter, als Tether Gerüchten zufolge eigene Probleme hat, von denen viele in der Krypto-Community erwarten, dass sie früher oder später explodieren werden. Erdoğan scheinen die Hände gebunden zu sein, denn in den türkischen Städten wimmelt es nur so von Werbung für Krypto-Dienste, die bei der lokalen Bevölkerung wirklich beliebt sind. Sie haben sich in der Vergangenheit etwas abfällig über Stablecoins geäußert, aber wie werden sie Ihrer Meinung nach die Dynamik einer Währungskrise wie der in der Türkei verändern? Wie sollte die Regierung auf sie reagieren, wenn überhaupt?
Bitcoin war, wie ich schon früher behauptet habe, die digital-algorithmische Reinkarnation des Goldstandards – gestützt auf die gleichen nichtssagenden Argumente und die gleichen zugrunde liegenden oligarchischen Motive. Stablecoins sind eine weitere Reinkarnation einer weiteren primitiven, gescheiterten Idee: dem sogenannten Currency Board.
Die Idee hinter dem Goldstandard war, dass nationale Währungen an Glaubwürdigkeit gewinnen, weil der Staat/die Zentralbank das Recht aufgibt, nach Belieben Geld zu drucken. Durch die Bindung des Wechselkurses einer nationalen Währung an den Goldpreis (z.B. 35 Dollar für eine Unze Gold) und die freie Konvertierbarkeit in beide Richtungen war es allgemein bekannt, dass, wenn die Behörden Geld in einem Gesamtwert druckten, der den Wert des Goldes in den Tresoren der Zentralbank überstieg, die Menschen, die Papiergeld besaßen, irgendwann Gold verlangen würden, das die Zentralbank nicht hatte.
Ein Currency Board (z.B. das System, das der bulgarischen Landeswährung heute zugrunde liegt) ist insofern ähnlich, als die Zentralbank den Wechselkurs der Landeswährung so festlegt, dass er dem Durchschnittspreis eines Korbs harter Währungen entspricht. Auch hier gilt: Solange es keine Kapitalverkehrskontrollen gibt und die nationale Währung in vollem Umfang in die Hartwährungen des Currency Boards konvertierbar ist, riskiert die Zentralbank einen Run auf ihre Reserven, wenn sie mehr Geld druckt, als ihren Devisenreserven (unter dem festen Wechselkurs) entspricht. Wie auch der Goldstandard haben sich Currency Boards als zerbrechlich erwiesen – beim ersten Anzeichen einer Wirtschaftskrise, eines Krieges oder einer anderen Art von Stress werden sie aufgegeben.
Ein Stablecoin ist ein Currency Board, mit dem Unterschied, dass es sich um eine staatenlose digitale Währung (wie Tether) und nicht um eine nationale Währung handelt. Das bedeutet, dass es keinen Staat gibt, der vorschreibt, dass die Systemadministrator:innen den festen Wechselkurs einhalten; dass sie keine Stablecoins über den Wert ihrer Reserven hinaus schaffen, sie einlösen und sich aus dem Staub machen. Mit anderen Worten: Zusätzlich zur inhärenten Instabilität von Currency Boards sind Stablecoins ein gefundenes Fressen für Betrüger:innen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Tatsache, dass Stablecoins oder Bitcoin selbst in Ländern wie der Türkei, die von der Inflation betroffen sind, die Aura von Heilsbringern haben, nichts anderes als ein Maß für die Verzweiflung der Menschen ist: Sie klammern sich an Strohhalme. Stablecoins bieten den Türk:innen keine Rettung vor der Inflation, die der Kauf von Euro oder Dollar nicht bieten kann. Warum also Tether anstelle von Dollar oder Euro kaufen? Warum sollte man sich auf die zwielichtigen Gestalten verlassen, die einen privaten Währungsrat leiten? Nur weil letztere gutes Marketing betreiben, um verzweifelte Menschen auszubeuten.
Was halten Sie von den jüngsten Bemühungen Chinas, sowohl seinen FinTech-Markt als auch die Krypto-Industrie zu zügeln und die Entwicklung des E-Yuan zu beschleunigen? Sind sie ein Beispiel für Europa und die USA, dem man nacheifern sollte? Und wenn ja, was sind die Elemente, die es wert sind, übernommen zu werden?
Ich bin sehr beeindruckt von diesen Schritten, vor allem, wenn man sie als Ganzes betrachtet. Die chinesischen Behörden sind dabei, gleichzeitig (1) die Immobilienblase platzen lassen (indem sie Evergrande Stück für Stück zu Fall bringen); (2) die Gesamtinvestitionen von 50 % auf 30 % des BIP senken, um so den Anteil der Löhne am BIP zu erhöhen; (3) das erdrückende Nachhilfesystem für Schüler:innen beenden, das junge Seelen erdrückt, ohne kreatives Denken zu fördern; (4) das Schreiben von Science-Fiction und das Entwerfen von Spielen fördern; (5) die Macht von Big Tech einschränken; und, zu guter Letzt, (6) den digitalen Yuan online stellen.
Dieser letzte Schritt, der digitale Yuan, stellt eine Revolution dar: Wenn er voll funktionsfähig ist, wird er jede Einwohner:in Chinas, aber auch jeden aus der ganzen Welt, der mit China Handel treiben möchte, mit einer digitalen Geldbörse ausstatten – einem einfachen digitalen Bankkonto. Damit werden die Geschäftsbanken mit einem Schlag „entmachtet“, d.h. sie verlieren ihr Monopol über das Zahlungssystem. Dies ist wirklich ein radikaler Bruch mit dem Finanzwesen, wie wir es bisher kannten. Und ja, es ist einer, dem wir in Europa und den Vereinigten Staaten nacheifern sollten – was natürlich der Grund dafür ist, dass die Wall Street und der Rest der westlichen Finanzwelt ihr Bestes tun werden, um dies zu verhindern, da sie lieber die Welt in die Luft jagen, als zuzulassen, dass sie… ent-intermediiert werden.
Sind Sie mit den Plänen für den „digitalen Dollar“ vertraut, die von Leuten wie Robert Hockett und Saule Omarova vorangetrieben werden und die im Wesentlichen auf der Notwendigkeit bestehen, einen demokratisch rechenschaftspflichtigen CBDC aufzubauen? Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die Fed so etwas einführt, vor allem wenn man bedenkt, wie viel Widerstand – auch aus der Kryptoindustrie – es gegen die Nominierung von Omarova für die Biden-Administration gab? Kürzlich haben wir auch vom Kongressabgeordneten Tom Emmer gehört, der zwar verkündet, dass Washington eine Kryptowährung mit „amerikanischen Merkmalen“ aufbauen sollte, aber der Fed jegliche Experimente mit einem CBDC verbieten will. Einer der von Emmer genannten Gründe für ein solches Vorgehen war die „Aufrechterhaltung der Dollar-Dominanz“. Was steckt Ihrer Meinung nach hinter solchen Ankündigungen? Bedeutet dies, dass die früheren Bemühungen von Facebook, einen eigenen Stablecoin zu lancieren – der jetzt (ironischerweise) Diem heißt -, wahrscheinlich einen offiziellen Stempel erhalten werden?
Die Situation klingt komplex, ist aber sehr, sehr einfach. Die meisten Dollar, Pfund, Euro und Yen sind bereits digital. Die Digitalisierung des Geldes ist nicht das Problem. Das Problem ist das Monopol des Zahlungssystems. Heute verwenden Sie digitales Geld (Telefon-Apps oder Plastikkarten), um eine Tasse Kaffee bei Starbucks zu kaufen. Doch dazu brauchen Sie zunächst ein Konto bei einer Geschäftsbank. Mit anderen Worten: Um Ihnen Zugang zu digitalem Papiergeld zu gewähren, zwingt der Staat Sie, sich in die Arme der Geschäftsbanken zu begeben.
Also garantiert der Staat heute den Geschäftsbanken ein Monopol auf Zahlungen. Und das ist nur ein Geschenk an die Oligarchie. Ein zweites, noch größeres Geschenk ist, dass nur Geschäftsbanken ein Konto bei der Zentralbank haben dürfen. Wenn also eine Rezession eintritt und die Zentralbank beschließt, die Wirtschaft anzukurbeln, senkt die Zentralbank den Zinssatz für den Überziehungskredit, den sie den Geschäftsbanken gewährt – die dies dann ausnutzen, um von Arbitrage zu profitieren (indem sie das Geld zu einem höheren Zinssatz an die Kund:innen weiterverleihen). Und wenn die Rezession noch schlimmer wird (wie es seit 2008 und jetzt mit der Pandemie der Fall ist), druckt die Zentralbank digitale Dollar oder Euro und schreibt sie direkt auf den Konten der Geschäftsbanken bei der Zentralbank gut. Das ist die Definition eines exorbitanten Privilegs!
Das ist der Grund, warum die Wall Street lieber die Welt explodieren, die Zeit untergehen oder das Armageddon eintreten sieht, als der Fed zu erlauben, mit dem digitalen Dollar fortzufahren: weil ein digitaler Dollar bedeuten würde, dass jede Einwohner:in der USA und jeder, der jenseits der US-Grenzen mit Amerikanern Handel treibt, eine digitale Brieftasche erhält. Das würde der Macht der Geschäftsbanken schaden. Erstens, weil die Menschen nicht mehr gezwungen wären, ein Bankkonto bei ihnen zu eröffnen (denken Sie an all die entgangenen Gebühren!). Zweitens, weil es keine Begründung mehr dafür gäbe, warum die Fed oder die EZB usw. nicht – wenn sie meinen, die Wirtschaft ankurbeln zu müssen – Helikoptergeld auf alle werfen können. Warum sollte man Dollar nur auf die Konten der Geschäftsbanken bei der Fed gutschreiben und nicht direkt auf die digitalen Geldbörsen der Bürger:innen? Warum sollte man den Geschäftsbanken überhaupt Geld geben?
Yanis Varoufakis in Barcelona, 2015 – source
Eine der anhaltenden Kritiken an Kryptowährungen wie Bitcoin und Ethereum ist ihr immenser Energieverbrauch, der oberflächlich betrachtet der Preis dafür zu sein scheint, dass man dem Staat als Schiedsrichter der Wahrheit bzw. als Anbieter von Vertrauen nicht vertraut. Die von der Ethereum Foundation vorgeschlagene Lösung besteht darin, den energieintensiven Mechanismus des Proof of Work durch den weniger umweltschädlichen Proof of Stake zu ersetzen. Letzteres löst jedoch, wenn man sich die Details genau ansieht, das Energieproblem, indem es das gesamte System plutokratischer macht, da es im Wesentlichen nach dem Prinzip „ein Dollar (oder Ether) = eine Stimme“ funktioniert. Was diese Krypto-Plutokratie für viele ihrer Befürworter:innen erträglich macht, ist ihre abgestumpfte Sicht auf das heutige Finanzsystem, das sie als noch plutokratischer und wild entschlossen ansehen, sich noch mehr von den Rettungsgeldern anzueignen. Wie kann man auf solche Kritik antworten?
Die Umweltkosten von Kryptowährungen sind zweifelsohne sehr hoch. Aber selbst wenn es einen Zauberstab gäbe, mit dessen Hilfe die Blockchain mit null Watt laufen würde, wären Kryptowährungen eher ein Problem als eine Lösung – aus Gründen, die ich oben erläutert habe. Kurz gesagt, innerhalb unseres derzeitigen oligarchischen, ausbeuterischen, irrationalen, und unmenschlichen Weltsystems wird der Aufstieg von Krypto-Anwendungen unsere Gesellschaft nur noch oligarchischer, ausbeuterischer, irrationaler und unmenschlicher machen. Deshalb mache ich mir bei meiner Opposition gegen die Krypto-Enthusiast:innen nicht einmal die Mühe, ihre ökologischen Auswirkungen zu erwähnen.
Schaut man sich einige der einflussreichen Krypto-Projekte genauer an, so findet man dort eine bizarre Mischung von Ideologien. Da gibt es zum Beispiel ein sehr ehrgeiziges Projekt namens Cosmos – es bewirbt sich selbst als „das Internet der Blockchains“ – das als Genossenschaft gegründet wurde, eine institutionelle Form, die vielen Linken am Herzen liegt. Der Mitbegründer und CEO ist jedoch ein großer Anhänger des „Free Banking„, einer Ideologie, die von vielen Libertären in den USA vertreten wird. Glauben Sie, dass die Linke zu langsam war, um den Raum der Kryptowährungen und digitalen Währungen zu verstehen? Es hat den Anschein, dass es selbst bei einer Reihe von Themen, die vor Kryptowährungen angesiedelt waren – zum Beispiel Komplementär- und Alternativwährungen – keine kohärente linke Position gibt, so dass sie heute von den Krypto-Start-ups, die die Tokenisierung von allem vorantreiben, leicht angeeignet werden können…
Die Linke, die Radikalen, die Progressiven usw. haben sich entweder geweigert, die wahre Genialität der Blockchain anzuerkennen, oder sind ihr auf den Leim gegangen. Wir scheinen vergessen zu haben, dass Marx und Engels einerseits den Verstand und die Fähigkeit besaßen, die technologischen und wissenschaftlichen Wunder ihrer Zeit zu bewundern und zu feiern, und andererseits zu begreifen, dass diese potenziell befreienden Technologien zwangsläufig die Vielen versklaven würden, wenn sie von den Wenigen instrumentalisiert werden. Die beiden Deutschen glaubten an das emanzipatorische Potenzial der Dampfmaschine und des Elektromagnetismus. Aber sie glaubten nicht, dass die Gesellschaft durch die Dampfmaschine und/oder den Elektromagnetismus befreit werden würde. Die Befreiung erforderte eine politische Bewegung, die zuerst die Bourgeoisie stürzt und erst dann diese großartigen Technologien in den Dienst der Vielen stellt. Dies scheint mir ein hervorragender Weg zu sein, um die heutigen potenziell befreienden Technologien, einschließlich der Blockchain, anzugehen.
Sie kennen Michel Feher, den belgischen Aktivisten-Philosophen. Ich weiß nicht, ob Sie sein Buch „Rated Agency“ gelesen haben, aber es ergreift viele Argumente derjenigen, die in der strukturellen Veränderung des globalen Finanzwesens, die nicht nur mit dem Aufstieg der Kryptowährungen, sondern auch mit der Popularität von Daytrading-Apps wie Robinhood einhergeht, etwas politisch Bedeutsames sehen, das von progressiven Kräften genutzt werden kann. Zumindest oberflächlich betrachtet ermöglichen letztere es Kleinanleger:innen, ihre Anstrengungen zu bündeln und sich in einem finanziellen Aktivismus zu engagieren, der zuvor nur Hedgefonds zur Verfügung stand (Feher selbst hatte eine interessante Interpretation der GameStop-Saga). Ich kann mir vorstellen, dass diese Logik bei der Koordinierung von Desinvestitionskampagnen funktioniert. Doch abgesehen vom Crowdfunding für z.B. kommunale Kleinstanleihen sehe ich noch keinen proaktiveren Einsatz dieser Macht – es sei denn, man will es der Hedgefonds-Branche heimzahlen und ihr die sorgfältig geplanten Leerverkäufe von Aktien wie GameStop vermiesen. Wie sehen Sie diese Landschaft? Ist es sinnvoll, die Linke dazu zu bringen, proaktiv einige Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihr ermöglichen würden, die Märkte zu „bewegen“?
In Kapitel 6 meines Buches „Another Now“ stellte ich mir vor, wie der Kapitalismus einer Reihe von Techno-Rebell:innen zum Opfer fiel, die eine Mischung aus Financial Engineering, weltweiten Verbraucherboykotten, und konventionellen Streiks/Aktivismus einsetzten. Ich erinnere mich an Anrufe von US-Journalist:innen ein Jahr später, die mich fragten: „Sind Ihre Crowdshorters in Aktion?” Ich war sehr amüsiert, als sie von den Crowdshorters sprachen, als wären sie eine echte Techno-Rebell:innengruppe. Auslöser für die Fragen der Journalist:innen war natürlich die Mini-Rebellion bei GameStop, bei der Millionen von Kleinanleger:innen über die Robinhood-Plattform gegen ein paar üble Hedgefonds antraten. Es ist also klar, dass ich von der Idee einer Techno-Rebellion mächtig begeistert bin. Wenn Sie wissen wollen, wie ich mir das vorstelle, an Tagen, an denen die Hoffnung den Pessimismus übertrumpft, dann ist dieses Kapitel meine lange Antwort.
Ich erwarte einen gewaltigen Kampf um das Recht auf eine digitale EZB-Brieftasche, der Erinnerungen an den Kampf um das allgemeine Wahlrecht wecken wird.
Sie haben sich gegen eine Entpolitisierung des Geldes ausgesprochen, was zumindest teilweise auch Ihre kritische Haltung gegenüber Bitcoin erklärt. Es gab, wie Sie gut wissen, Pläne für einen digitalen Euro. Er wäre wahrscheinlich politischer als Bitcoin, da er eine direkte Verbindung zur EZB hätte. Aber solange die EZB als eine technokratische und unpolitische Institution angesehen wird, würde das auch für den digitalen Euro gelten. Sie haben in der Vergangenheit viel darüber geschrieben und gesprochen, aber was würde es in der Praxis bedeuten, eine Institution wie die EZB zu politisieren? Allgemeiner ausgedrückt: Was würde es für die praktische Politik bedeuten, die „politische“ Dimension des Geldes im Blick zu behalten?
Die europäischen Banker:innen verabscheuen die Idee eines digitalen Euro ebenso sehr wie die Banker:innen der Wall Street die Idee eines digitalen Dollars. Er würde ihr Monopol über den Zahlungsverkehr beenden und die exklusive Nabelschnur, die sie mit den Druckerpressen der Zentralbanken verbindet, schwer zu rechtfertigen machen (siehe oben). Das Besondere an der Eurozone ist, dass es kein Schatzamt der Eurozone, keine gemeinsamen Schulden, und kein föderales Entscheidungsgremium gibt. Dies ist, damit wir es nicht vergessen, ein Konstruktionsmerkmal der Eurozone, das die europäische Oligarchie so sehr liebt. Wenn ich es mir genau überlege, ist die Nichtexistenz einer Regierung, die in der Lage ist, beträchtlichen Reichtum von den Finanziers und Unternehmen an die Allgemeinheit zu transferieren (nicht einmal die deutsche Regierung kann das), der feuchte Traum jeder Oligarchie. Warum sollten sie diesen Triumph durch die Schaffung einer demokratisch gewählten Bundesregierung oder eines digitalen Euro zunichte machen wollen?
Aber hier ist ein interessanter Gedanke: Die Völker Europas haben es versäumt, sich für eine föderale Demokratie in Europa einzusetzen. Die digitale Währung der chinesischen Zentralbank könnte sich jedoch als schwieriger zu ignorieren erweisen: Wenn ein niederländisches oder deutsches Unternehmen, das mit China Handel treibt, eine digitale Brieftasche von der chinesischen Zentralbank erwerben kann, wird es diese mit Sicherheit nutzen. Das bedeutet, dass die Vorherrschaft des Euro sogar innerhalb Europas angefochten wird. Der Druck auf die EZB, einen digitalen Euro zu schaffen, ist also enorm. Aber ebenso groß ist der Gegendruck der Oligarchie, um sicherzustellen, dass die Menschen in Europa, selbst wenn ein digitaler Euro geschaffen wird, keine digitale Euro-Geldbörse bei der EZB haben dürfen. In diesem Sinne erwarte ich einen gewaltigen Kampf um das Recht auf eine digitale EZB-Brieftasche, der Erinnerungen an den Kampf um das allgemeine Wahlrecht wecken wird.
Was halten Sie von den Vorgängen in El Salvador? Das Land hat nicht nur Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt (kurz nach der Ankündigung der Chivo-Wallet, gefüllt mit ein wenig Geld, um einen Anreiz für die Nutzung zu schaffen), sondern wird auch die so genannten Vulkan-Anleihen ausgeben, die für einige Kontroversen gesorgt haben. Kann man diese Anleihen als eine Taktik betrachten, die die Möglichkeiten El Salvadors bei den Verhandlungen mit dem IWF erweitert? Glauben Sie aufgrund Ihrer eigenen Erfahrungen bei Verhandlungen mit dieser Institution, dass sie eine Chance auf Erfolg haben?
Es ist ein absurder Gag. Ich kann denjenigen, die mir sagen: „Hätten Sie, Yanis, Bitcoin schon 2015 eingeführt, wären alle Probleme der griechischen Bevölkerung verschwunden!“, beim besten Willen keine Antwort geben. Warum sollten sie? Die Armen in Griechenland oder El Salvador hätten ohnehin keine Möglichkeit, an Bitcoin heranzukommen. Die einzigen Nutznießer:innen wären dann die Bitcoin-Hamsterer (von denen nur sehr wenige in El Salvador oder Griechenland leben), die plötzlich von einem Anstieg der Bitcoin-Nachfrage und davon profitieren, dass sie ihre Vorräte in El Salvador ausgeben können, ohne sie in Dollar umtauschen zu müssen. Die einzigen armen El Salvadorianer:innen, die etwas davon haben könnten, sind die Auswanderer:innen, die Geld in Form von Überweisungen nach Hause schicken – Menschen, die jetzt von Western Union und dergleichen geschröpft werden.
Zu Volcano Bonds: Dies ist eine gefährliche Entwicklung. Eine Regierung lädt Spekulant:innen ein, Kryptowährungen zu kaufen, die von einem verarmten Staat unterstützt werden. Die frühen Bitcoin-Enthusiast:innen waren zum Teil durch ihre Abscheu von Regierungen motiviert, die untragbare Schulden aufnahmen – bevor sie sich im Inland der finanziellen Repression und Austerität hingaben -, um ihre Schulden zu “extend-and-pretend”en. Die Sorge war, dass die Wall Street und andere schmierige konventionelle Finanziers irgendwann anfangen würden, ähnliche Pyramiden auf… Bitcoin zu bauen. Und die größte Befürchtung war, dass der Staat sich daran beteiligen würde. Nun, mit Volcano Bonds wird dieser Albtraum Wirklichkeit, denn sie ermöglichen es Spekulant:innen, mit einer Kryptowährung zu spekulieren und dabei einen verarmten Staat als Backup zu nutzen.
Ganz allgemein, und damit wir es nicht vergessen, sind die Staatsschulden El Salvadors in Dollar und somit unabhängig davon, ob Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt wird oder nicht. Die Einführung von Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel bringt nur enorme Kosten für kleine Unternehmen mit sich und stellt sicher, dass diejenigen, die Bitcoin akzeptieren, quasi aus dem inländischen Steuersystem aussteigen – was zu einem erheblichen Verlust an fiskalischem Spielraum für die Regierung führt, eine Entwicklung, die ihre langfristige Dollar-Schuldenlast erhöht.
Was das Argument angeht, dass durch die Annahme von Bitcoin mehr Bitcoin in das Land strömen wird, wodurch Investitionen angekurbelt werden und die Regierung mehr Freiheitsgrade gegenüber dem IWF erhält, kann ich auch hier die Logik nicht erkennen. Bitcoin-Unternehmen sind in die baltischen Staaten, nach Puerto Rico, und anderswohin gezogen, weil dort die Kosten und Steuern niedrig, und die Regulierung ihrer Aktivitäten vernachlässigbar sind. Es war ihnen egal, ob der Laden an der Ecke per Gesetz gezwungen wird, Bitcoin zu akzeptieren. (Jedenfalls nutzen die meisten dieser Unternehmen Bitcoin letztendlich, um große Mengen an… Dollar zu verdienen!).
In Anbetracht der obigen Ausführungen kann ich nicht erkennen, warum irgendjemand glaubt, dass die Regierung von El Salvador durch die Einführung von Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel ihre Verhandlungsposition gegenüber dem IWF verbessern würde. Die Tatsache, dass der IWF absolut dagegen ist, dass Bitcoin in El Salvador den Status eines gesetzlichen Zahlungsmittels erhält, ebenso wie gegen die Vulkananleihen des Präsidenten, bedeutet nicht, dass der IWF befürchtet, dass seine Verhandlungsposition gegenüber der Regierung von El Salvador geschwächt wird. Ganz im Gegenteil: Sie sagen voraus, dass das Bitcoin-Experiment den fiskalischen Spielraum der salvadorianischen Regierung verringern, die Macht des IWF über El Salvador stärken, aber gleichzeitig den Druck auf den IWF erhöhen wird, weitere Rettungsgelder für ein gescheitertes El Salvador bereitzustellen. Nach dem jüngsten Fiasko, das der IWF mit den riesigen Rettungspaketen für die rechtsradikale Macri-Regierung in Argentinien angerichtet hat, ist das nichts, worauf die IWF-Leute Wert legen.
Sie haben in einem Interview behauptet, dass Bitcoin feudalistische Elemente enthält, da es keinen demokratischen Mechanismus gibt, der festlegt, wer wie viele Bitcoins erhält, und somit die frühen Anwender:innen begünstigt werden. Interessanterweise beziehen Sie hier den Feudalismus auf die Demokratie und nicht auf den Kapitalismus. Denn wenn man über den kapitalistischen Wettbewerb nachdenkt – aber auch über all die zwielichtigen Dinge, die Marxist:innen gerne unter „primitive Akkumulation“ zusammenfassen – kann man leicht argumentieren, dass an dem, was Sie beschreiben, nichts Unkapitalistisches ist: Diejenigen, die früh eingestiegen sind, haben den größten Teil des Kuchens bekommen, während das Krypto-Mining, so wie es heute existiert, diejenigen mit größerem Kapitaleinsatz begünstigt. Warum sollte man dieses System als „feudalistisch“ bezeichnen, wenn „kapitalistisch“ genauso gut passen würde?
Vermögenswerte an sich sind weder feudalistisch noch kapitalistisch. Ob wir nun über Gold, Gurken, oder Bitcoin sprechen, Vermögenswerte sind Vermögenswerte – Ende der Geschichte. Was einen Vermögenswert feudal, kapitalistisch, oder sozialistisch macht, ist die Art und Weise, wie er mit den sozialen Produktionsverhältnissen einer Gesellschaft interagiert, das Muster der Eigentumsrechte, die er begründet, usw. Als ich die frühen Bitcoin-Anhänger:innen als Krypto-Aristokratie, als Krypto-Lords, bezeichnete, wollte ich damit sagen, dass wenn ein Vermögenswert wie Bitcoin (dessen Tauschwert auf künstlicher Knappheit beruht) in ein oligarchisches Ausbeutungssystem (Kapitalismus, Kleptokratie, Techno-Feudalismus usw.) eingebettet wird, er den grundlegenden Charakter der (vorkapitalistischen) Feudalordnung erhält: Eine kleine Minderheit ist ermächtigt, Renten im Verhältnis zu den Teilen des Vermögens zu kassieren, mit denen sie begonnen hat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Bitcoin per se weder feudalistisch noch kapitalistisch ist. Er ist einfach oligarchisch.
Yanis Varoufakis in London, 2017 – source
Kürzlich haben Sie das Thema des „Techno-Feudalismus“ aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus nicht mehr das ist, was er einmal war. Wenn ich Ihre These richtig verstehe, ist das derzeitige System deshalb „feudal“, weil A) die Märkte nicht mehr der Schlüssel zur Erzielung von Gewinnen sind (z. B. deutet die Erfahrung mit QE darauf hin), während B) Technologieplattformen eine immense politische Macht erlangt haben, die es im Kapitalismus noch nie gegeben hat. Ist dies eine korrekte Zusammenfassung Ihrer Argumentation? Gibt es andere wichtige Dimensionen des „Techno-Feudalismus“, die in dieser Zusammenfassung nicht erfasst werden?
Die Frage ist folgende: Durchläuft der Kapitalismus eine weitere seiner vielen Metamorphosen, so dass er lediglich eine neue Bezeichnung verdient, z.B. Rentierkapitalismus, Plattformkapitalismus, Hyperkapitalismus oder xxxxx-Kapitalismus? Oder sind wir Zeugen einer qualitativen Umwandlung des Kapitalismus in eine völlig neue ausbeuterische Produktionsweise? Ich denke Letzteres. Außerdem ist dies nicht nur eine theoretische Frage. Wenn ich Recht habe, ist das Erfassen der Radikalität dieses Wandels entscheidend für den Widerstand gegen diese neue systematische Ausbeutung.
Verwunderung ist natürlich eine verständliche Reaktion auf meine Behauptung, die sehr erklärungs- und begründungsbedürftig ist. Ich bin nicht in der Lage, sie hier in vollem Umfang darzulegen (Anm.: Ich werde mein nächstes Buch diesem Thema widmen), aber hier ist ein kleiner Vorgeschmack:
Der Kapitalismus ist überall, wohin wir schauen. Das Kapital akkumuliert sich rasant und schlägt der Arbeit überall und auf grausame neue Weise auf den Kopf. Wie kommt es also, dass ich behaupte, es handele sich nicht mehr um Kapitalismus – sondern um etwas Schlimmeres und Eigenständiges? Zunächst möchte ich unsere Leser:innen daran erinnern, dass in den 1780ern der Feudalismus allgegenwärtig und die Feudalherren stärker denn je waren. Schleichend infizierte der Kapitalismus jedoch bereits die Wurzeln des Feudalismus und eine neue herrschende Klasse (die Bourgeoisie) war im Begriff, die Macht zu übernehmen.
Ich behaupte, dass der Kapitalismus heute – ähnlich wie der Feudalismus in den 1780ern – von einem weitaus ausbeuterischerem und sehr ausgeprägtem neuen extraktiven/ausbeuterischen System (das ich als Techno-Feudalismus bezeichne) verdrängt wird, das komplett mit einer neuen herrschenden Klasse ankommt.
Kritiker:innen meiner These werden zu Recht darauf hinweisen, dass der Kapitalismus viele Wandlungen durchlaufen hat – von seiner frühen Wettbewerbsphase über den Monopol- und Oligopolkapitalismus (ab 1910), die Bretton-Woods-Periode (in der das Finanzwesen mit Kapitalkontrollen usw. an der Leine gehalten wurde), den finanzialisierten Kapitalismus (ab 1980) und in jüngster Zeit den Rentierkapitalismus. Alle diese Kapitalismen waren unterschiedlich und unterschieden sich auf interessante Weise voneinander. ABER, sie waren alle eine Version des Kapitalismus.
Was macht ein System kapitalistisch? Die Antwort lautet: Es ist ein System, das von privaten Gewinnen (nicht von Renten) angetrieben wird, die auf Märkten erzielt werden. (Zum Vergleich: Der Feudalismus wurde durch Renten angetrieben, die außerhalb von Märkten erzielt wurden). Hat sich das geändert? Ich glaube ja. Was ist an die Stelle zum einen des Profits und zum anderen der Märkte getreten? Meine Antwort: Zentralbankgeld ist an die Stelle des privaten Profits (als Haupttreibstoff und Schmiermittel des Systems) getreten, und digitale Lehensgüter/Plattformen sind zu dem Bereich geworden, in dem Wert und Kapital der Mehrheit von einer winzigen Oligarchie entzogen werden.
Lassen Sie mich dies näher erläutern:
Hypothese 1: Zentralbankgeld hat die privaten Gewinne als Motor des Systems ersetzt
Die Rentabilität ist nicht mehr die Triebfeder des Systems als Ganzes, auch wenn sie für individuelle Unternehmer:innen nach wie vor das A und O ist. Denken Sie daran, was am 12. August 2020 in London geschah. Es war der Tag, an dem die Märkte erfuhren, dass die britische Wirtschaft katastrophal geschrumpft war – und zwar weitaus stärker als von Analysten erwartet (in den ersten sieben Monaten des Jahres 2020 waren mehr als 20 % des Volkseinkommens verloren gegangen). Als die Finanzleute die düsteren Nachrichten hörten, dachten sie: „Toll! Die Bank von England wird in ihrer Panik noch mehr Pfund drucken und sie an uns weiterleiten, um Aktien zu kaufen. Zeit, Aktien zu kaufen!”
Dies ist nur eine der zahlreichen Erscheinungsformen einer neuen globalen Realität: In den Vereinigten Staaten und überall im Westen drucken die Zentralbanken Geld, das die Finanziers den Unternehmen leihen, die es dann zum Rückkauf ihrer Aktien verwenden – deren Preise dadurch von den Gewinnen abgekoppelt werden. Die neuen Baron:innen erweitern so Dank der Staatsgeldern ihre Lehen, auch wenn sie keinen einzigen Cent Gewinn machen! Außerdem diktieren sie dem vermeintlichen Souverän – den Zentralbanken, von denen sie „liquide“ gehalten werden – die Bedingungen. Während sich die Fed beispielsweise ihrer Macht und Unabhängigkeit rühmt, ist sie heute völlig machtlos, das zu beenden, was sie 2008 begonnen hat: Das Drucken von Geld im Auftrag von Banker:innen und Unternehmer:innen. Selbst wenn die Fed den Verdacht hat, dass sie, indem sie die Unternehmensbaron:innen liquide hält, die Inflation anheizt, weiß sie, dass ein Ende des Gelddruckens das Haus zum Einsturz bringen würde. Die Angst, eine Schulden- und Konkurslawine auszulösen, macht die Fed zu einer Geisel ihrer eigenen Entscheidung, Geld zu drucken, und sorgt dafür, dass sie weiterhin Geld drucken wird, um die Baron:innen liquide zu halten. Das hat es noch nie gegeben. Mächtige Zentralbanken, die heute das System im Alleingang am Laufen halten, haben noch nie so wenig Macht gehabt. Nur im Feudalismus fühlte sich der Souverän seinen Baron:innen ähnlich unterwürfig, während er gleichzeitig dafür verantwortlich war, das ganze Gebäude zusammenzuhalten.
Hypothese 2: Digitale Plattformen treten an die Stelle der Märkte
Amazon.com, Facebook, etc. sind keine Märkte. Wenn man sie betritt, lässt man den Kapitalismus hinter sich. Auf diesen Plattformen entscheidet ein Algorithmus (der einer Person oder sehr wenigen Personen gehört), was zum Verkauf angeboten wird, wer sieht, welche Ware verfügbar ist, und wie viel Pacht die Eigentümer:in der Plattform von den Gewinnen der Vasallenkapitalist:innen einbehält, die auf der Plattform handeln dürfen. Kurz gesagt, immer mehr wirtschaftliche Aktivitäten verlagern sich von Märkten zu digitalen Lehen. Und das ist noch nicht alles.
Im 20. Jahrhundert und bis heute erhielten die Arbeitnehmer:innen in großen kapitalistischen Oligopolunternehmen (wie General Electric, Exxon-Mobil oder General Motors) etwa 80 % des Unternehmenseinkommens. Die Beschäftigten von Big Tech erhalten nicht einmal 1 % der Einnahmen ihres Arbeitgebers. Das liegt daran, dass bezahlte Arbeitskräfte nur einen Bruchteil der Arbeit verrichten, von der Big Tech profitiert. Wer verrichtet den größten Teil der Arbeit? Die meisten anderen von uns! Zum ersten Mal in der Geschichte produziert fast jede:r umsonst (oft mit Begeisterung) und trägt so zum Kapitalstock von Big Tech bei (das bedeutet es, wenn man Dinge auf Facebook hochlädt oder sich bewegt, während man mit Google Maps verbunden ist). Darüber hinaus nimmt dieses Kapital eine neue, weitaus mächtigere Form an (siehe unten, wo ich vom Kommandokapital spreche).
Gleichzeitig erleben Unternehmen, die auf normalen kapitalistischen Märkten operieren – außerhalb von Big Tech und Big Finance -, wie ihre Rentabilität ohnehin zusammenbricht, ihre Abhängigkeit von Zentralbankgeld exponentiell wächst, und ihr Eigentum von Private Equity und SPACs aufgefressen wird. Ergo, so wie die feudalen sozialen Produktionsverhältnisse in den 1780er Jahren am Dahinschwinden waren (und durch kapitalistische soziale Beziehungen ersetzt wurden), sind es heute die kapitalistischen sozialen Produktionsverhältnisse, die durch das ersetzt werden, was ich techno-feudale soziale Beziehungen nenne.
Zusammenfassend:
Das Kapital wird stärker, aber der Kapitalismus liegt im Sterben. Ein neues System tritt an die Stelle, in dem eine neue herrschende Klasse sowohl das staatliche Geld besitzt und verwaltet, mit dem es geschmiert wird (anstelle von Profiten), als auch die neuen nicht-marktlichen Bereiche, in denen die sehr, sehr Wenigen die Vielen für sich arbeiten lassen. Die kapitalistischen Profite (im Sinne der unternehmerischen Profite, wie sie von Adam Smith und Marx verstanden wurden) verschwinden, während sich auf den Konten der neuen Techno-Lords, die sowohl den Staat als auch die digitalen Lehen kontrollieren, neue Formen der Pacht ansammeln, in denen unbezahlte oder prekäre Arbeit von den Massen verrichtet wird, die allmählich Techno-Bäuer:innen ähneln.
Eine häufige Aussage in Argumenten über den Aufstieg des Techno-Feudalismus ist, dass Tech-Plattformen nur passive Rentiers sind, die immense Gewinne aus Nutzer:innendaten ziehen, für die sie sehr wenig zahlen. Um es auf die extremste Art und Weise auszudrücken: Es handelt sich um faule, zumeist immaterielle Rentiers, die sich auf ihren Lorbeeren ausruhen, nachdem sie eine Menge an geistigem Eigentum angehäuft haben. Diese Lesart liegt auch vielen der enthusiastischen Berichte über Web3 zugrunde, die versprechen, den Datenreichtum mit den Nutzer:innen zu teilen, die ihn erzeugt haben. Schaut man sich jedoch die Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen dieser Unternehmen an, ergibt sich ein anderes Bild: Sie investieren tatsächlich mehr – und nicht weniger – in materielle und greifbare Vermögenswerte als Nicht-Tech-Firmen (und mehr als sie selbst vor einem Jahrzehnt), während sie gleichzeitig immense R&D- und Kapitalausgaben tätigen (z. B. Amazon für 2020 über 40 Milliarden Dollar, Alphabet fast 30 Milliarden Dollar). Dies scheint recht gut zu der Auffassung zu passen, dass es sich bei diesen Firmen um kapitalistische Unternehmen handelt, die zwar einige Märkte kontrollieren, aber dennoch auf anderen konkurrieren (Google, Facebook und Amazon im Bereich Werbung; Google, Microsoft, Amazon und Alibaba im Bereich Cloud Computing und KI-Dienste). Laufen wir nicht in Gefahr, die real existierenden kapitalistischen Dynamiken dieser Tech-Ökonomie zu minimieren, wenn wir die mit dem Feudalismus verbundenen Dynamiken betonen?
In folgender Hinsicht stimme ich mit Ihnen überein: Jeff Bezos, Elon Musk und Co. investieren massiv und sind keineswegs wie die faulen Aristokrat:innen der ursprünglichen Feudalzeit. Das bedeutet aber nicht, dass ihre Investitionen Teil einer normalen kapitalistischen Dynamik sind. Techno-Feudalismus ist nicht einfach Feudalismus mit Gadgets. Er ist gleichzeitig viel fortschrittlicher als der Kapitalismus und erinnert an den Feudalismus.
Lassen Sie mich präziser werden. Die massiven Investitionen von Big Tech, die Sie erwähnen, sind entscheidend. Nicht nur wegen ihrer Größe, sondern vor allem wegen dem, was sie hervorbringen: eine neue Form von Kapital, die ich als Kommandokapital bezeichne. Was ist Kommandokapital?
Das Standardkapital besteht aus produzierten Produktionsmitteln. Das Kommandokapital hingegen besteht aus produzierten Mitteln zur Organisation der industriellen Produktionsmittel. Seine Eigentümer:innen können enorme neue Werte schaffen, ohne die industriellen Produktionsmittel zu besitzen, sondern lediglich durch den Besitz der privatisierten Informationsnetzwerke, die das Kommandokapital verkörpern.
Das Kommandokapital, um genau zu sein, lebt in Netzwerken/Plattformen in Privatbesitz und hat das Potenzial, diejenigen, die es nicht besitzen, zu zwei Dingen anzuhalten: Die Maschinen/Algorithmen, auf denen es lebt, zu trainieren, um (A) unser Konsumverhalten zu steuern und (B) direkt noch mehr Kommandokapital im Namen seiner Besitzer:innen zu produzieren (z.B. Dinge auf Facebook zu posten, eine Form der De-Kommodifizierung von Arbeit).
Abstrakter formuliert: Das Standardkapital ermöglicht es den Kapitalist:innen, Tauschmehrwert anzuhäufen. Das Kommandokapital hingegen ermöglicht es den Techno-Lords (d. h. Jeff Bezos, Elon Musk, und anderen), Kommandowert anzuhäufen. Kommandowert? Ja: Jede digitale Ware hat in dem Maße einen Befehlswert, in dem ihre Käufer:in sie nutzen kann, um eine alltägliche menschliche Aktivität in die Fähigkeit zu verwandeln, einen Algorithmus zu trainieren, der zwei Dinge tut: (A) uns dazu zu bringen, Dinge zu kaufen, und (B) uns dazu zu bringen, kostenlos und zu ihrem Nutzen Kommandokapital zu produzieren.
In der Sprache der politischen Ökonomie von Marx wird das Ausmaß des in jeder digitalen Ware enthaltenen Kommandowertes bestimmt durch die Summe aus: dem Mehrwert der Waren, die uns dazu bringen, sie zu kaufen (siehe A oben) + der Arbeitszeit, die gesellschaftlich/technisch notwendig ist, um eine Einheit Kommandokapital zu produzieren (unter B oben), das sich die Techno-Lords sofort aneignen können.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das, was Bezos, Musk und Co. durch ihre massiven Investitionen erreichen, weder im Sinne des Feudalismus noch des Kapitalismus verstanden werden kann.
- Der Feudalismus beruhte auf der direkten Gewinnung von Erfahrungs-/Nutzwert aus den Bäuer:innen.
- Der Kapitalismus basierte auf der Ausbeutung des Arbeitsüberschusses aus der Lohnarbeit.
- Der Technofeudalismus ist ein neues System, in dem die Techno-Lords eine neue Macht ausüben, um den Rest von uns dazu zu bringen, Dinge in ihrem Namen zu tun. Diese neue Macht beruht auf der Investition in eine neue Form von Kapital (Kommandokapital), die es ihnen ermöglicht, eine neue Art von Wert (Kommandowert) anzuhäufen, der ihnen wiederum die Möglichkeit gibt, Mehrwert aus (i) Vasallenkapitalist:innen, (ii) dem Prekariat und (iii) jedem, der ihre Plattformen nutzt, um in ihrem Namen zu produzieren, unbewusst noch mehr Kommandokapital zu gewinnen.
Wenn ich recht habe, würden wir, wenn wir dieses neue Umfeld weiterhin … Kapitalismus nennen, die Gelegenheit verpassen, die radikal anderen und neuen Prozesse wahrzunehmen, die unser Leben im Hier und Jetzt bestimmen. Techno-Feudalismus kommt meiner Meinung nach dieser schönen (wenn auch dystopischen) neuen Welt viel näher.
Das Interview wurde von Evgeny Morozov geführt und ursprünglich auf The Cryptus Syllabus veröffentlicht.
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