Exklusivinterview mit Yanis Varoufakis, geführt von Nataša Vlašić Smrekar für die kroatische Zeitschrift Vecernji List. Hier lesen:
F: Kürzlich haben Sie vor der DiEM25 Gruppe in Rijeka ausgeführt, dass die Eurozone der kroatischen Wirtschaft und den kroatischen Bürger:innen nicht gut tun würde, genau wie Griechenland, Portugal und Spanien… Aber bisher haben die kroatischen Politiker:innen die nationale Währung, die Kuna, nicht geldpolitisch eingesetzt. Es scheint also eigentlich keinen großen Unterschied zu machen, ob wir den Euro oder die Kuna haben?
YV: In finanziell relativ ruhigen Zeiten (wie aktuell oder in der Zeit von 2001 bis 2007) erscheinen die Kosten für die Beibehaltung der Kuna (z.B. die höheren Zinssätze, die man für Kredite zahlen muss, oder die Gebühren für die Umrechnung von Kuna in Euro) unnötig und können einen leicht ins grübeln bringen, wozu man die Kuna behalten soll. Vor diesem Hintergrund kann ich die vielen Menschen verstehen, die sagen: „Lasst uns den Euro einführen, damit wir keine Gebühren und höheren Zinsen zahlen müssen – wir denken sowieso alle in Euro.“ Aber das wäre ein großer Fehler: Eine eigene Währung zu haben ist ein bisschen wie eine Autoversicherung – man lernt sie erst zu schätzen, wenn man einen Unfall hat! Sie ist sogar noch wertvoller als das. Der Verzicht auf die Kuna wäre nicht nur gleichbedeutend mit dem Verzicht auf eine Autoversicherung, sondern würde zudem die Wahrscheinlichkeit eines Verkehrsunfalls erhöhen!
Warum sage ich, dass die Einführung des Euro die Wahrscheinlichkeit einer Finanzkrise in Kroatien erhöhen würde? Aus diesem einfachen Grund: Wenn die Löhne in Kuna bezahlt werden, zögern die deutschen Banken, den kroatischen Arbeiter:innen und der kroatischen Mittelschicht Kredite zu gewähren, weil sie befürchten, dass der Kuna-Euro-Kurs fallen könnte, was es den kroatischen Kreditnehmer:innen erschweren würde, ihre Euro-Kredite zurückzuzahlen. Sobald Kroatien jedoch offiziell den Euro einführt, werden die deutschen Banken weniger zögerlich sein, wenn es darum geht, kroatischen Banken Kredite für Kroat:innen zu gewähren, insbesondere an diejenigen, die Immobilien besitzen, die sie als Sicherheiten verwenden können. Schnell werden dann mehr und mehr Kredite von Frankfurt über kroatische Banken nach Zagreb fließen. Das Ergebnis wird ein enormer Anstieg der privaten Schulden sein, die letztlich den deutschen Banken geschuldet werden, während die Immobilienpreise steigen (da mehr Käufer:innen sich mehr Geld geliehen haben werden, um sie zu kaufen). All das wird zu einem falschen Wachstumsschub beitragen, da die Menschen, die glauben, dass ihr Vermögen und ihre Unternehmen im Wert gestiegen sind, sich noch mehr Geld leihen (z. B. über Kreditkarten), um mehr Volkswagen, Peugeot und andere Importe zu kaufen. So wird eine Blase entstehen, bevor sie „platzt“ und eine Pleitewelle hinterlässt.
Sie können sich den Rest vorstellen: Nachdem sie durch die Einführung des Euro aufgeblasen wurde, wird die unvermeidliche private Schuldenblase platzen. Da diese Schulden nun auf eine Währung laufen, die die kroatische Zentralbank nicht drucken kann (Euro!), werden die kroatischen Banken pleite gehen und damit auch der kroatische Staat, der seine Einlagengarantie für die kroatischen Sparer:innen nicht mehr erfüllen kann. In diesem traurigen Moment ergeben sich zwei Möglichkeiten: Die eine ist, dass die kroatischen Banken pleite gehen und der kroatische Staat, um sie zu retten, die Kuna wieder einführt, d.h. aus der Eurozone austritt. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Europäische Zentralbank einspringt, um sowohl die kroatischen Banken als auch den kroatischen Staat mit einem riesigen Rettungsdarlehen nach griechischem Vorbild zu retten, das natürlich nur unter Bedingungen extremer Sparmaßnahmen für die große Mehrheit der Kroat:innen gewährt wird. In beiden Fällen sieht die Mehrheit der Kroaten einer Katastrophe ins Auge.
Kurzum, mein Rat an die vielen kroatischen Freund:innen lautet: Tut es nicht! Bleibt der Eurozone fern! Man kann durch die Mitgliedschaft in der Eurozone viel verlieren und nur sehr wenig gewinnen, wie die Fälle Polens, Ungarns und Tschechiens zeigen (die ehemals kommunistischen EU-Länder, die, indem sie dem Euro nicht eingeführt haben, besser abgeschnitten haben als die Volkswirtschaften am Rand der Eurozone, z. B. Griechenland, Portugal, Spanien, Zypern usw.).
F: Eine Änderung der wirtschaftlichen und demokratischen Struktur der Eurozone ist von Deutschland kaum zu erwarten. Haben Sie einen Vorschlag, wie die Entscheidungsfindung in der Wirtschaftspolitik in Europa demokratisiert werden kann und wie Länder wie Griechenland, Portugal, Spanien und Kroatien, aber auch Frankreich und Italien in diesen Prozess einbezogen werden können?
YV: Die einfache Antwort ist, dass die einzige Möglichkeit, die Eurozone wirklich zu demokratisieren, darin besteht, sie in eine demokratische Föderation zu verwandeln, mit einer föderalen Regierung und einem föderalen Finanzministerium, das einen großen Teil der öffentlichen und privaten Schulden vereinheitlicht.
Margaret Thatcher hatte sich gegen den Euro ausgesprochen, weil sie befürchtete, dass er ein Schritt in Richtung „Föderation durch die Hintertür“ sei. Wenn sie doch nur recht hätte! Denn es war nicht der Versuch, eine Föderation einzuführen. Es war viel schlimmer als das: Eine Währungsunion, der die Menschen in einen eisernen Käfig der Austerität sperrte und ihnen die Möglichkeit nahm, den Käfig durch eine demokratische Abstimmung wieder abzuschaffen. Warum haben die politischen Architekt:innen des Euro das getan?
Aus zwei Gründen: Aus der Perspektive von Überschussländern wie Deutschland und den Niederlanden war es sinnvoll, weil sie bei einer Finanzkrise in der Eurozone das Sagen haben würden – da die Regierungen der Defizitländer (einschließlich Italien und Frankreich) bankrott wären und ihre Regierungen zu viel Angst haben würden, sich in den Sitzungen des EU-Rates und der Eurozone Gehör zu verschaffen. Der zweite Grund ist, dass die Oligarchie in jedem Land (sowohl in den Überschuss- als auch in den Defizitländern) die Möglichkeit liebte, es einer gewählten Regierung nicht nur schwer, sondern unmöglich zu machen, signifikante Einkommens- oder Vermögensverschiebungen von den Wenigen mit viel Besitz zu den Vielen mit wenig Besitz vorzunehmen. [Das hatte zur Folge, dass den Staaten die Instrumente einer Zentralbank vorenthalten wurden, während gleichzeitig sichergestellt wurde, dass die Regierungen unter ihren Ausgabe-Grenzen blieben.]
Das Problem mit der obigen Analyse ist, dass die Menschen resignieren, wenn sie sie hören. Niemand glaubt, dass es unter den gegebenen Umständen möglich ist, eine demokratische Föderation zu verwirklichen – einer Föderation, in der die Mehrheit der Menschen in den ärmeren, defizitären Mitgliedsstaaten leben wird – solange das Prinzip „eine Person – eine Stimme“ gilt. Aus dieser Erkenntnis erwächst ein Gefühl der Hilflosigkeit. Nichts stärkt Faschist:innen, Fremdenfeind:innen und Rechtsextremist:innen mehr als das Gefühl nationaler Demütigung und der persönlichen Hilflosigkeit. Um diesem Gefühl entgegenzuwirken, hat DiEM25 bei den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament – als Teil unseres Green New Deal für Europa – einen zweistufigen Prozess zur effektiven Demokratisierung der Europäischen Union vorgeschlagen:
Schritt 1: Die Simulation einer Wirtschaftsföderation, die auf zwei Hauptschritten basiert. Der erste Schritt wäre, dass die Europäische Investitionsbank (EIB) riesige Mengen an grünen Investitionen in ganz Europa tätigt und insbesondere in den Aufbau einer Grünen Energieunion steckt. Dieser Schritt würde ein föderales Investitionsprogramm simulieren, indem die Nationalstaaten umgangen und die Grüne Energieunion ohne neue Steuern und zentral finanziert würde. Wie? Die EIB gibt jedes Jahr Anleihen im Wert von einer halben Billion Euro aus, und die EZB verspricht, sie bei Bedarf zu kaufen (was sie nicht tun müsste, da die bloße Zusage, sie zu kaufen, ausreichen würde, um eine enorme Nachfrage nach diesen Anleihen zu erzeugen). Der zweite Schritt wäre die „Europäisierung“ der öffentlichen Schulden in Höhe von 60 % des Nationaleinkommens eines jeden Landes. Wie? Indem die EZB eigene Anleihen in dieser Höhe ausgibt und sie gegen die nationalen Anleihen eintauscht – eine Simulation einer föderalen europäischen Staatsverschuldung, die in ihrer Struktur den Bundesschulden in den USA ähnelt.
Schritt 2: Sobald große Teile der europäischen Investitionen und der Staatsverschuldung durch die in Schritt 1 vorgeschlagenen Simulationen quasi föderalisiert sind, würde die ökonomische Stagnation, mit der Europa seit 2008 konfrontiert ist, ein Ende haben und die Europäer:innen würden die EU als eine Kraft des Guten in ihrem täglichen Leben erkennen. An diesem Punkt, so hoffen wir von DiEM25, wäre es möglich, die Diskussion darüber zu beginnen, wie eine richtige, vollwertige, demokratische Föderation aufgebaut werden kann.
F: Was sagt uns das relativ schlechte Abschneiden der Grünen bei den Wahlen in Deutschland? Es sah lange so aus, als ob sie die alte Sozialdemokratische Partei (SPD), die die Arbeiterklasse verraten hat, überholen würde, aber das ist nicht geschehen. Können Sie sich dazu äußern?
YV: Es gab zweifellos eine gewisse Inkompetenz seitens der Führung der Grünen während des Wahlkampfes. Die wichtigste Lektion ist aber, dass es nicht funktioniert, eine ehemals radikale Bewegung zu entradikalisieren. Die deutschen Grünen haben jahrelang versucht, dem deutschen Establishment zu zeigen, dass sie verlässlich sind, dass das Establishment ihnen vertrauen kann, dass die Oligarchie sie nicht fürchten muss und dass sie bereit sind, mit den Christdemokraten zu regieren, wenn es sein muss. Das Ergebnis ist, dass sie eine konservative Wirtschaftsagenda verabschiedet haben, die die wichtigsten Grundsätze des New Deal verwirft, aber den Namen Green New Deal beibehält. Am Ende sind sie zu Ordoliberalen geworden, die mehr Geld für das Recycling und einige Wachstumsbeschränkungen wollten. Die konservativen Wähler:innen waren davon nicht angetan („Warum nicht die echten Konservativen wählen?“, dachten sie), während viele radikalere Wähler:innen abgeschreckt wurden.
F: Hat die Wahl einen Wandel in der deutschen Politik bewirkt?
YV: Ja, diese Wahl hat jede Hoffnung auf eine progressive Wende in der deutschen Politik nach dem Abgang von Angela Merkel zunichte gemacht. Einerseits garantiert die vollständige Kontrolle der SPD durch Olaf Scholz, den nächsten Bundeskanzler, der die deutsche Sozialdemokratie weiterhin voll und ganz der strengen Sparpolitik für die deutsche Arbeiterklasse und einer traurigen Wiederholung von Merkels Variante der Christdemokratie verpflichten wird. Auf der anderen Seite garantiert der Eintritt der FDP in die Regierung, dass die FDP, selbst wenn Herr Scholz eine Erleuchtung haben sollte, jede fortschrittliche Änderung der Berliner Haltung in der Innen- und Europapolitik verhindern wird. Deshalb macht DiEM25 den riskanten, aber wichtigen Schritt, am 13. November eine neue progressive Partei (MERA25) in Berlin zu gründen. Zweifelsohne wird unsere Partei klein sein und einen schweren Stand haben. Aber angesichts der Schmach der Partei Die Linke und des Rechtsrucks der Grünen haben wir beschlossen, dass DiEM25 eine Stimme in der deutschen Politik haben muss, die es uns ermöglicht, den deutschen Progressiven unsere Geschichte zu erzählen und sie einzuladen, uns die Hand zu reichen, denn, lassen Sie uns das klar sagen, nichts Gutes kann in Europa geschehen, wenn es nicht ein festes Fundament in Europas Kraftzentrum hat – und das ist Deutschland.
F: Können Sie die Rolle Deutschlands und insbesondere Angela Merkels auf dem westlichen Balkan, ja in Südosteuropa, beurteilen?
YV: Nach der Kapitalismus in 2008 eine Nahtoderfahrung hatte und die deutschen Banken pleite gingen, hat Merkels Regierung einen schmutzigen Plan ausgeheckt: Die Rettung der Frankfurter Banken, indem die Verluste der Banken zynischerweise auf die Schultern der schwächsten Bürger:innen Europas übertragen wurden. Die deutschen Arbeiter:innen hatten bereits unter sozialdemokratischen und christdemokratischen Bundeskanzler:innen und Finanzminister:innen enorme Sparmaßnahmen ertragen müssen. Nach 2009 waren die arbeitenden und mittleren Klassen Südeuropas an der Reihe, die Folgen zu tragen. Die Länder des ehemaligen Jugoslawiens sowie Bulgarien litten unter den indirekten Folgen von Frau Merkels Politik, die ich einfach als „großzügiger Sozialismus für die Banker:innen und harte Sparmaßnahmen für alle anderen“ bezeichne. Die einzigen Länder, die nicht völlig zusammenbrachen, waren diejenigen, deren Industrie in die deutsche Industrie integriert war (Polen, Ungarn und Tschechien), die hauptsächlich für den chinesischen Markt produziert. Und dann kam 2015 der Zustrom von Geflüchteten, bei dem Berlin nach dem Ende von Frau Merkels zweiwöchigem Experiment mit Humanismus (das heißt, nachdem ihre eigene Partei sie gezwungen hatte, die Politik der offenen Türen für Syrer:innen aufzugeben) Allianzen mit den fremdenfeindlichsten Politiker:innen des westlichen Balkans schmiedete, zusammen mit meinen ehemaligen Genoss:innen in der SYRIZA-Regierung in Griechenland. Das alles um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – und gegen die Idee eines grenzenlosen Europas – zu begehen, das in der maroden Migrationspolitik besteht, bei der unschuldige Menschen in der Türkei eingesperrt werden, in der Ägäis umkommen und generell einer großen Misshandlung ausgesetzt werden, damit sie eine Botschaft an ihre Herkunftsländer senden können: „Bleibt weg von Europa – es ist ein grausamer Kontinent“. Das Problem mit dieser Allianz zwischen Frau Merkel und den ultrarechten Kräften auf dem westlichen Balkan und darüber hinaus ist, dass sie nicht nur an sich abscheulich ist, sondern auch die Politik vergiftet und die Menschenfeindlichkeit in ganz Europa – insbesondere an den östlichen und südöstlichen Flanken – verstärkt.
F: Wie beurteilen Sie die Position der Linken in Europa und in der Welt im Allgemeinen? Hat sich das linke politische Denken vom Fall des Kommunismus erholt? Wo steht die Progressive Internationale in all dem?
YV: Gerade weil sich die Linke nie von ihrer Niederlage von 1991 erholt hat und es nicht geschafft hat, eine transnationale progressive Politik umzusetzen, haben sich einige von uns zur Progressiven Internationale zusammengeschlossen. Was Europa betrifft, so ist die Situation hier schlimmer als überall auf der Welt. In Europa ist die totale Niederlage der Linken meiner Einschätzung nach auf die Entscheidung der Partei der Europäischen Linken zurückzuführen, den Vorschlag von DiEM25 abzulehnen, den Europäer:innen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 eine einheitliche, kohärente, wirtschaftliche und politische Agenda zu präsentieren. Warum haben sie den Vorschlag abgelehnt? Weil sie der „Einheit“ den Vorzug gaben, d. h. diejenigen, die vor dem EU-Establishment kapitulierten (z. B. SYRIZA in Griechenland), diejenigen, die einen Austritt aus der EU anstrebten (z. B. Melenchon in Frankreich, Lafontaine in Deutschland) und diejenigen, die keine wirkliche Meinung zur EU hatten (z. B. Podemos in Spanien), unter einen Hut zu bringen. Nur dass diese „Einheit“ nutzlos war, da sie auf einer inkohärenten Botschaft an die Menschen Europas beruht. (Wie sollte es auch anders sein, wenn Parteien mit so unterschiedlicher Gesinnung und Ausrichtung zusammenarbeiten?) Meine Hoffnung für die Progressive Internationale in Europa und anderswo ist, dass sie die Fehler der Partei der Europäischen Linken nicht wiederholt und stattdessen dem Beispiel von DiEM25 folgt. Wenn sie eine lose Konföderation nationalstaatlich orientierter Parteien bleibt, ist auch sie dem Untergang geweiht. DiEM25 und ich persönlich werden unser Möglichstes tun, um dies zu verhindern.
F: Sie glauben, dass die Ordnung, in der wir leben, nicht mehr der Kapitalismus sondern ein Tech-Feudalismus ist. Die freien Wettbewerbsmärkte wurden tatsächlich verdrängt? Was geschieht hier?
YV: Im Mittelpunkt der These, dass sich der Tech-Feudalismus vom Kapitalismus unterscheidet, steht die Beobachtung, dass nach 2008, dem Aufstieg digitaler Plattformen und in jüngster Zeit der Pandemie die beiden Haupttriebkräfte des Kapitalismus nicht mehr im Mittelpunkt des Wirtschaftssystems stehen: Profite und Märkte. Natürlich treibt das Gewinnstreben die meisten Menschen weiterhin an. Und Märkte gibt es überall. Das breite System, in dem wir leben, wird jedoch nicht mehr durch private Gewinne angetrieben. Heutzutage ist der Markt auch nicht mehr der wichtigste Mechanismus für die Gewinnungmaximierung oder die Schaffung von Wohlstand.
Was ist an die Stelle von Gewinnen und Märkten getreten? Die kurze Antwort lautet: Zentralbankgeld hat die kapitalistischen Gewinne als Treibstoff des Systems ersetzt, und die digitalen Plattformen von Big Tech haben die Märkte als Mechanismus für die Wertschöpfung ersetzt.
Zentralbankgeld hat die Profite als Motor des Systems ersetzt: Der Profit treibt das System nicht mehr an, auch wenn er für die einzelnen Unternehmer:innen nach wie vor das A und O ist. Unbestreitbare Beweise dafür, dass Zentralbankgeld und nicht Gewinne das Wirtschaftssystem antreiben, sind überall zu finden. Ein gutes Beispiel dafür sind die Ereignisse in London am 12. August 2020. Es war der Tag, an dem die Märkte erfuhren, dass die britische Wirtschaft katastrophal eingebrochen war – und zwar weit mehr, als es Analysten erwartet hatten (mehr als 20 % des Landeseinkommen waren in den ersten sieben Monaten des Jahres 2020 verloren gegangen). Als die Finanzleute die düsteren Nachrichten hörten, dachten sie: „Großartig! Die Bank von England wird in ihrer Panik noch mehr Geld drucken und an uns weiterleiten, um Aktien zu kaufen. Zeit, Aktien zu kaufen!“
Dies ist nur eine von unzähligen Erscheinungsformen einer neuen globalen Realität: In den Vereinigten Staaten und überall im Westen drucken die Zentralbanken Geld, das die Finanziers den Unternehmen leihen, die damit ihre Aktien zurückkaufen – deren Kurse sind damit von den Gewinnen abgekoppelt. Die neuen Barone erweitern so mit Hilfe von Staatsgeldern ihre Lehen, auch wenn sie keinen einzigen Cent Gewinn machen! Außerdem diktieren sie dem vermeintlichen Souverän – den Zentralbanken, die sie „liquide“ halten – die Bedingungen. Die Fed zum Beispiel rühmt sich zwar ihrer Macht und Unabhängigkeit, ist aber heute völlig machtlos, das zu stoppen, was sie 2008 begonnen hat: das Gelddrucken im Auftrag von Bankern und Konzernen. Selbst wenn die Fed den Verdacht hat, dass sie, indem sie die Unternehmensbarone liquide hält, die Inflation anheizt, weiß sie, dass ein Ende des Gelddruckens das Haus zum Einsturz bringen würde. Die Angst, eine Schulden- und Konkurslawine auszulösen, macht die Fed zu einer Geisel ihrer eigenen Entscheidung, Geld zu drucken, und sorgt dafür, dass sie weiter Geld drucken wird, um die Barone liquide zu halten. Das hat es noch nie gegeben. Mächtige Zentralbanken, die heute das System im Alleingang am Laufen halten, haben noch nie so wenig Macht gehabt. Nur im Feudalismus fühlte sich der Souverän seinen Baronen ähnlich unterwürfig, während er gleichzeitig dafür verantwortlich war, das ganze Gebäude zusammenzuhalten.
Digitale Plattformen treten an die Stelle der Märkte: Im 20. Jahrhundert und bis heute erhielten die Arbeitnehmer:innen in großen kapitalistischen Oligopol-Unternehmen (wie General Electric, Exxon-Mobil oder General Motors) etwa 80 % des Unternehmenseinkommens. Die Beschäftigten von Big Tech erhalten nicht einmal 1 % der Einnahmen ihres Arbeitgebers. Das liegt daran, dass bezahlte Arbeitskräfte nur einen Bruchteil der Arbeit verrichten, von der Big Tech profitiert. Wer verrichtet den größten Teil der Arbeit? Wir alle! Zum ersten Mal in der Geschichte produziert fast jede:r kostenlos (oft mit Begeisterung) das Kapital von Big Tech (das bedeutet, dass man Dinge auf Facebook hochlädt oder sich bewegt, während man mit Google Maps verbunden ist). Das hat es im Kapitalismus noch nie gegeben. Der Schlüssel zum Verständnis unseres neuen Systems ist die Erkenntnis, dass digitale Plattformen keine neue Form des Marktes sind. Wenn man Facebook als Nutzer:in oder Google als Angestellte:r betritt, verlässt man den Markt und betritt ein neumodisches technisches Lehen.
Was bedeutet diese Umwandlung des Kapitalismus in einen Tech-Feudalismus für uns alle? Beispiele für die Auswirkungen des Tech-Feudalismus sind:
- Die Auswirkungen auf die sozialen Klassen und die gegenderte Arbeitsteilung durch den schnellen Rückzug der Lohnarbeit und ihre Ersetzung durch unbezahlte Arbeit in einer Gesellschaft, in der die Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit verschwindet
- Die Auswirkungen auf ein politisches System, das aus zwei Parteien besteht, von denen die eine tendenziell die Lohnarbeit (die schrumpft) und die andere das Kapital (das zunehmend von unserer unbezahlten Arbeit profitiert) vertritt
- Die Unmöglichkeit, die Macht digitaler Lehen/Plattformen zu regulieren, wenn sie sich zu (um Zuckerberg zu zitieren) „Metaverse Unternehmen“ entwickeln
- Der Verlust jeglicher demokratischer Autorität über staatliches Geld, das die Ungleichheit anheizt, die Tür für oligarchische Kryptowährungen öffnet und die Fähigkeit der Menschheit, unserem gemeinsamen Interesse zu dienen, zunehmend einschränkt – einschließlich unserer Fähigkeit, den katastrophalen Klimawandel aufzuhalten
- Was es für die gesamte Menschheit, einschließlich der oberen 0,01 %, bedeutet, stetig proletarisiert zu werden – in einer Weise, die Die Matrix von einem Science-Fiction-Film zu einem Dokumentarfilm macht.
F: Was ist die Alternative zum Tech-Feudalismus und wie kann sie erreicht werden?
YV: Zu dieser großen Frage möchte ich Sie auf mein letztes Buch verweisen – einen politischen Science-Fiction-Roman mit dem Titel EIN ANDERES JETZT. Darin dienen die Handlung und ihre Figuren dazu, zwei Dinge zu beschreiben. Erstens: Wie würden die Dinge (Unternehmen, Wohnungen, Geld, Handel, Demokratie am Arbeitsplatz, in der Region und im Land usw.) in einer freien, demokratischen Marktgesellschaft funktionieren, in der alles Eigentum in kollektivem Besitz ist, es keine Börsen und keine Geschäftsbanken gibt. Zweitens: Welche Art von Revolution könnte eine solche sozioökonomische Ordnung herbeiführen? Um diese beiden Fragen zu beantworten, stellt sich EIN ANDERES JETZT eine globale Bewegung nach dem Crash von 2008 vor, die auf ganz andere Weise rebelliert als die OCCUPY WALL STREET-Bewegung. Da ich nicht noch mehr spoilern möchte, hoffe ich, dass Sie mir erlauben, jetzt noch nicht mehr zu sagen.
F: Was halten Sie von dem Vorschlag, eine 15-prozentige Steuer auf multinationale Unternehmen einzuführen? Reicht das aus, um in der Welt etwas zu verändern? Kann das Problem der enormen Ungleichheiten in der Welt durch die Einführung einer höheren globalen Unternehmenssteuer zumindest verringert werden?
YV: Das ist eine Spielerei, die gar nichts dazu beitragen wird, ein Mindestmaß an Steuergerechtigkeit in der Welt herzustellen. Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Letztes Jahr hat Amazon in Europa 44 Milliarden Euro verdient und dafür keine Körperschaftssteuer gezahlt. Raten Sie mal, wie viel Amazon im Rahmen der neuen so genannten 15 prozentigen globalen Körperschaftssteuer zahlen wird: Wieder null! Wie kommt das? Weil das globale Abkommen, das im Rahmen der OECD ausgehandelt wurde, eine Steuer von 15 % auf nur 20 % der weltweiten Gewinne eines multinationalen Unternehmens vorsieht, die – und jetzt kommt der „lustige“ Teil – mit einer Marge von über 8 % über den Kosten anfallen. Da Amazons Buchhalter:innen jedoch gut darin sind, die Kosten groß zurechnen, lagen diese Margen im letzten Jahr unter 8 %. Somit wird Amazon weiterhin keine Steuern zahlen!
F: Können wir über die sehr tiefen Klassenunterschiede in einigen der reichsten Gesellschaften wie den USA, aber auch in China sprechen?
YV: Das Wichtigste, woran man sich hier erinnern sollte, ist, dass das, was die Mainstream-Presse als Handelskrieg zwischen den Vereinigten Staaten und China bezeichnet, in Wirklichkeit ein Klassenkampf innerhalb der Vereinigten Staaten und Chinas ist. In den Vereinigten Staaten haben die multinationalen Unternehmen seit Jahren Arbeitsplätze nach China exportiert, um sowohl chinesische als auch amerikanische Arbeiter:innen unter Druck zu setzen. In China wiederum beruht das Wachstumsmodell auf enormen Investitionen (bis zu 50 % des Landeseinkommens), was bedeutet, dass die Löhne ins Unermessliche gedrückt werden. Während die amerikanischen und chinesischen Kapitalist:innen ihre Gewinne in die Höhe schrauben und ihre Regierungen sich streiten, sind es die amerikanischen und chinesischen Arbeiter:innen, die Opfer eines schrecklichen Arbeitslebens und schwindender Lebensperspektiven werden.
F: Die Lebensmittel- und Energiepreise steigen dramatisch, die Inflation und die Zinssätze werden voraussichtlich steigen. Was geschieht auf den europäischen und weltweiten Märkten und warum?
YV: Nach Jahrzehnten der Globalisierung, die zu einer unglaublichen Ausdehnung der Versorgungsketten geführt hat, verursachte die Covid-19-Pandemie einen starken Anstieg der Transportkosten, einschließlich des Transports von Öl und Flüssiggas. In Verbindung mit einigen anderen zufälligen Faktoren (z. B. ein sehr schwaches Windjahr in Nordeuropa) und geopolitischen Unwägbarkeiten (z. B. die vorübergehende Einschränkung der Gaslieferungen von Russland in die EU, um Nordstream 2 durchzusetzen) löste dieser Preisanstieg Spekulationen aus: Die üblichen Verdächtigen nutzten die riesigen Geldmengen, die von den Zentralbanken gedruckt werden, und kauften künftige Energielieferungen und künftige Transportkapazitäten. Das Ergebnis? Ein vorübergehender Preisanstieg wird nun durch Spekulationen verstärkt.
F: Ist die europäische Klimapolitik für den Anstieg der Energiepreise mitverantwortlich?
YV: Nein, noch nicht. Aber sie könnte durchaus eine Rolle spielen. Vor allem, wenn wir nicht schnell eine CO2-Steuer einführen, die vollständig an die ärmeren Europäer:innen umverteilt wird.
F: Das Klima verändert sich, die Natur und die Wirtschaft brechen zusammen, die Kriege hören nicht auf… die Menschen haben eine Vorahnung der Katastrophe. All diese Probleme könnten jedoch gelöst werden, wenn ein weltweiter politischer und wirtschaftlicher Konsens über die Zusammenarbeit auf der Grundlage von Vernunft, Gerechtigkeit und Fortschritt erreicht werden könnte. Glauben Sie, dass die Menschheit zu einem solchen Wandel fähig ist?
YV: Das ist das große Paradox unserer Spezies. Der Kapitalismus hat Produktivkräfte freigesetzt, von denen die Menschheit nicht einmal wusste, dass sie sie hat. Aber gleichzeitig schuf der Kapitalismus neue Formen von unglaublicher Verdorbenheit, unter denen die Menschheit nie zuvor gelitten hat, nicht einmal im Mittelalter. Ich erwähne dies, weil wir mit der historischen Diskrepanz zwischen den wunderbaren Fähigkeiten der Menschheit und den miserablen Ergebnissen bestens vertraut sind. Also ja, ich glaube, dass wir die Möglichkeit haben, gemeinsamen Wohlstand zu erreichen, dass wir die technologischen Fähigkeiten haben, den Planeten vor der Klimakatastrophe zu bewahren, und dass wir uns der Herausforderung stellen können, Vernunft und Ethik zu verbinden. Aber das ist keine Garantie, nicht einmal ein Hinweis, dass uns das auch gelingen wird.
Letztlich läuft das Ganze auf die notwendigen und ausreichenden Bedingungen für einen fortschrittlichen Wandel hinaus. Die erste notwendige Bedingung ist, dass wir den Kapitalismus beenden. Tragischerweise reicht das überhaupt nicht aus, da das Ende des Kapitalismus, wie ich oben argumentiert habe, bereits im Gange ist, weil der Kapitalismus etwas Schlimmeres als den Kapitalismus hervorbringt: Tech-Feudalismus. Unsere Aufgabe ist es also, um die wichtigste notwendige Bedingung zu schaffen, gleichzeitig gegen den Kapitalismus und gegen das neue System zu kämpfen, in das sich der Kapitalismus unter der Führung von Big Finance, Big Tech, Big Pharma und, wie immer, dem militärisch-industriellen Komplex verwandelt.
Aber selbst das ist nicht genug: Um die Technologie mit der Menschlichkeit und die Vernunft mit der Ethik in Einklang zu bringen, müssen wir die Arbeitsplätze demokratisieren, Arbeit an sich abschaffen, indem wir sie durch Automation ersetzen, die es uns ermöglicht, unsere Talenten zu hervorzubringen, uns stetig zu verbessern, unser Glück zu finden, ohne den Planeten zu zerstören, kreative Arbeit zu leisten – wie Künstler:innen, Musiker:innen und Mathematiker:innen, für die die Arbeit untrennbar mit dem guten Leben verbunden ist.
F: Was kann die Progressive Internationale in dieser Hinsicht tun?
YV: Sie kann dabei helfen, nationalstaatliche politische Parteien zu überwinden, vollständig transnationale Bewegungen und parteipolitische Möglichkeiten zu entwickeln, eine planetarische Agenda zu schmieden und uns alle im Kampf gegen die Kräfte der Reaktion und der Oligarchie in jedem Winkel dieser unserer Erde zu vereinen.
Dieses Interview wurde ursprünglich auf Kroatisch bei Vecernji List veröffentlicht.
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