Jeremy Corbyn über die Ukraine, Griechenland, Brexit, das britische Gesundheitssystem und die Labour Partei

Auf seinem Weg nach Athen, um am ersten Kongress von MeRA25, unserer politischen Partei im griechischen Parlament, teilzunehmen, sprach der ehemalige britische Labour-Chef Jeremy Corbyn mit der griechischen Tageszeitung TA NEA. Lies sein Interview hier.

Herr Corbyn, Sie kommen im Mai nach Griechenland, um am MeRA25-Kongress teilzunehmen. Warum MeRA25? Der Syriza-Kongress hat vor kurzem stattgefunden, und soweit ich weiß, wollte man Sie auch einladen.

Ich habe seit einiger Zeit eine Reise nach Griechenland mit Yanis Varoufakis geplant und freue mich, am MeRA25-Kongress teilzunehmen, um über Frieden, Gerechtigkeit und internationale Solidarität zu diskutieren.

Mir ist keine andere Einladung bekannt, aber natürlich arbeite ich mit linken und fortschrittlichen Parteien in ganz Europa und in der ganzen Welt zusammen. Dazu gehört auch Syriza, mit der ich in der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sitze und zusammenarbeite.

Eine allgemeine Frage: Bei den letzten Wahlen in Frankreich haben wir wieder starke Rechtsextreme mit Le Pen und Zemmour erlebt, auch wenn Macron wiedergewählt wurde. Auf der anderen Seite haben Spanien und Portugal sozialdemokratische Regierungen. Welcher Trend wird sich Ihrer Meinung nach durchsetzen?

Ich glaube, dass die Dinge, so wie sie sind, nicht bleiben können. Das globale System bricht zusammen: Klima, Schulden, Lieferketten, Konflikte, Ungleichheit. Die Mitte kann sich nicht halten, und wie Sie andeuten, erleben wir in vielen Ländern bereits das Erstarken der extremen Rechten. Es liegt an der Linken, eine kraftvolle und hoffnungsvolle Alternative zu präsentieren. Ich weiß, dass wir das schaffen können.

Mélenchon war kurz davor, die extreme Rechte bei den Präsidentschaftswahlen zu schlagen, und ich bin zuversichtlich, dass die Linke jetzt in Frankreich zusammenkommt und wir Hoffnung schöpfen können.

Wie stehen Sie zur russischen Invasion in der Ukraine? Glauben Sie, dass es politisch richtig ist, sowohl Russland als auch der NATO entgegenzutreten?

Ich verurteile den Einmarsch Russlands in die Ukraine auf das Schärfste. Er ist nicht zu rechtfertigen. Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, einen Waffenstillstand, den Abzug der russischen Truppen und eine umfassende Verhandlungslösung zu erreichen.

Diese umfassende Verhandlungslösung muss eindeutig einen neutralen Status für die Ukraine beinhalten. Die NATO hätte nach dem Ende des Kalten Krieges aufgelöst werden müssen. Militärbündnisse und Kriegstreiberei führen zu weiterer Kriegstreiberei. Die Erweiterung der NATO ist falsch und wirft die Sache des Friedens zurück. Diejenigen von uns, die in NATO-Ländern leben, müssen daher die Rolle kritisieren, die unsere Regierungen beim Schüren von Spannungen und bei der Schaffung der Bedingungen gespielt haben, unter denen Putin seine mörderische und törichte Entscheidung getroffen hat, in die Ukraine einzufallen.

Wie geht Ihr Projekt für Frieden und Gerechtigkeit mit den Themen Krieg und Frieden im weiteren Sinne um?

Unser Standpunkt ist ganz einfach: Kriege werden durch Dialog und Verhandlungen beendet, also lassen Sie uns Wege finden, dies zu beschleunigen und die Kämpfe zu beenden. Kurzfristig erreichen wir dies durch den Aufbau einer weltweiten Friedensbewegung, die Druck auf die Regierungen ausüben kann, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Langfristig fordern wir die Kriegsmaschinerie heraus: die Rüstungskonzerne und die schießwütige politische Klasse: durch Kampagnen in unseren eigenen Ländern und auf internationaler Ebene durch die UNO und andere Gremien, um eine atomwaffenfreie Welt zu erreichen. Und wir bauen auch die Institutionen auf, die Konflikte bewältigen und lösen und eine echte Diplomatie der Menschen fördern können.

Hat Sie Ihre differenzierte Brexit-Position in England politisch etwas gekostet? Wie sehen Sie die Entwicklung des Brexit heute?

Der Brexit hat unsere potenzielle Wahlkoalition gespalten und die Energie von anderen wichtigen Themen abgezogen. Wir wollten die Vielen – die „Leave“- und „Remain“-Wähler – gegen die Wenigen zusammenbringen.

Brexit bedeutet zwei recht unterschiedliche Dinge. Das eine ist ein politisches oder kulturelles Projekt in der britischen Politik und Gesellschaft. Ich denke, das wird verschwinden und durch ein anderes Projekt ersetzt werden. Der Brexit als politisches Projekt ist vollzogen worden.

Die andere Bedeutung ist die eines praktischen Projekts zur Veränderung der Beziehungen Großbritanniens zur EU. Das wird noch viele Wendungen haben und hängt auch von den Entwicklungen in der EU ab. Ich denke, dass wir in einigen Bereichen eine stärkere Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich erleben werden. Aber ob das Vereinigte Königreich in der Lage sein wird, ein anderes Wirtschaftsmodell mit einer gewissen Distanz zu den EU-Vorschriften zu verfolgen, das hängt von der politischen Richtung der EU-Staaten und des Vereinigten Königreichs ab. Werden wir uns vom neoliberalen Modell entfernen, was entweder bedeutet, dass wir die EU-Regeln brechen oder ändern, wie es Mélenchon in Frankreich vorschlägt, oder werden wir daran gekettet bleiben? Diese Frage stellt sich für das Vereinigte Königreich und die EU gleichermaßen, und zwar unabhängig von den formalen Beziehungen.

Glauben Sie, dass es jetzt, da Griechenland die Pandemie überwunden hat, der richtige Zeitpunkt ist, um über unser nationales Gesundheitssystem zu diskutieren? Glauben Sie, dass die Idee eines öffentlichen Gesundheitssystems an Stärke gewinnt, oder wird das Establishment Wege finden, es weiterhin zu untergraben?

Das Gesundheitssystem ist das Zivilisierteste, was das Vereinigte Königreich zu bieten hat. Es ist ein großer Sieg, den das britische Volk errungen hat. Wir werden ihn immer verteidigen. Im Moment wird er furchtbar heruntergewirtschaftet, unterfinanziert und privatisiert. Wir müssen das nicht nur ändern, sondern auch einen nationalen Pflegedienst einrichten, um sicherzustellen, dass jede:r in Würde und ohne Angst vor Alter oder Krankheit leben kann.

Ein letzter Punkt: Sie wurden wegen angeblichem Antisemitismus aus der Labour-Partei ausgeschlossen. Wie reagieren Sie auf diese Vorwürfe und auf das Verhalten der neuen Führung Ihnen gegenüber? Könnten Sie sich allgemeiner zur Politik von Keir Starmer äußern?

Ich bin natürlich sehr traurig, dass die Partei, der ich meine gesamte politische Laufbahn gewidmet habe, in diese Lage geraten ist. Es ist kein Geheimnis, dass ich als Labour-Chef einiges an Beschimpfungen einstecken musste, nicht zuletzt von einigen äußerst unfairen und extrem feindseligen Medien, die Gegenstand einer Reihe von wissenschaftlichen Studien waren. Aber nichts war und ist so verletzend wie die Behauptung, dass ich oder einer aus meinem Team in irgendeiner Weise am Antisemitismus beteiligt war.

Seit 35 Jahren stehe ich als Abgeordneter für Islington Nord Seite an Seite und arbeite Hand in Hand mit meinen jüdischen Wähler:innen und den jüdischen Gemeinden im ganzen Land, um Antisemitismus zu bekämpfen und jüdische Anliegen zu fördern. Ich habe vor dem Anstieg des Antisemitismus in ganz Europa gewarnt und immer wieder versucht, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die Politiker:innen aller Parteien dagegen angehen müssen. Meine diesbezügliche Bilanz spricht für sich selbst, für jeden, der sich dafür interessiert. Diese Anschuldigung war also nicht nur auf persönlicher Ebene zutiefst verletzend, sie war auch kategorisch unwahr. In der Tat bin ich sehr stolz auf unsere Leistungen bei der Einführung grundlegender Reformen in der Führung der Labour Partei, die weiter gingen als jede andere Führung in der Geschichte, um antijüdische Vorurteile innerhalb der Labour-Bewegung aufzudecken und zu bekämpfen.

Auch hier sind die Beweise und Aufzeichnungen absolut schlüssig. Als es uns gelang, die Kontrolle über die Labour-Parteiführung von den politisch feindlich gesinnten Amtsinhabern zu erlangen, stieg die Zahl der Untersuchungen von Antisemitismus-Beschwerden um das Vierfache, und die Zahl der Sanktionen – einschließlich der Ausschlüsse – gegen diejenigen, die Vorurteile gegen jüdische Mitglieder oder jüdische Menschen im Allgemeinen hegten, stieg dramatisch an.

Es ist nach wie vor eine große Ungerechtigkeit gegenüber jüdischen Mitgliedern, dass die Ignoranz und Feindseligkeit hochrangiger amtierender Funktionär:innen innerhalb der Labour-Partei einige unserer anfänglichen Bemühungen zur Einführung von Reformen behindert hat. Und es ist ein schwerwiegendes Versäumnis der EHRC-Untersuchung in dieser Angelegenheit, dass sie nicht Licht in diese Angelegenheit gebracht und die wahren Ursachen für die anfänglichen Mängel im Beschwerdesystem aufgedeckt hat. Als Labour-Vorsitzender habe ich jedoch die Verantwortung für jeden einzelnen Fall von Antisemitismus in unserer Partei übernommen, und ich habe dies sehr ernst genommen, sowohl in Form von konkreten Maßnahmen als auch durch eine aufrichtige Entschuldigung bei der jüdischen Gemeinschaft im Namen der Labour-Bewegung.

Aus diesem Grund habe ich die Empfehlungen des EHRC-Berichts begrüßt und befürwortet. Aber ich fürchte, die Behauptung, dass die Labour-Partei unter meiner Führung institutionell antisemitisch war oder dass ich und mein Team alles andere als unnachgiebig proaktiv und entschlossen waren, dieses Problem anzugehen, ist eine konstruierte Lüge, die in der Mainstream-Presse enormen Anklang fand. Das ist der Punkt, den ich in meiner Erklärung nach dem EHRC-Bericht, der meinen Ausschluss aus der Partei zur Folge hatte, angesprochen habe.

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