Der Green New Deal für Europa eröffnet neue Perspektiven für die urbane Zukunft: Mailand in 15 Jahren

Ein Spaziergang durch die nachhaltigen Stadtviertel in der Peripherie von Mailand im Jahr 2035.

 

Dies ist ein Ausblick auf eine mögliche Zukunft, ein Gedankenspiel über die Gestaltung urbaner Lebenswelten. Es bringt uns fünfzehn Jahre in die Zukunft und soll ein realistisches Bild davon vermitteln, wie das Leben im urbanen Raum aussehen könnte, wenn die Lösungsansätze des Green New Deal (GNDE) für Europa in den kommenden Jahren umgesetzt werden. Folgen wir also einem Reisejournalisten im Jahr 2035 durch ein paar Nachbarschaften in Mailand, die heutzutage als Problemviertel gelten, und schauen uns an, wie sie sich zukünftig entwickeln könnten.

Wie würde sich das Leben im urbanen Raum verändern, wenn die Lösungsansätze des GNDE in den kommenden Jahren umgesetzt werden?

Wenn man heute durch die lebhaften und farbenfrohen Straßen von Ponte Lambro streift, ist es kaum vorstellbar, dass dieses multikulturelle Zentrum der kreativen Entfaltung, der sozialen Fürsorge und der ökologischen Nachhaltigkeit vor gerade einmal fünfzehn Jahren noch so stark vom Risiko der gesellschaftlichen Ausgrenzung betroffen war wie kaum ein anderes Viertel von Mailand.

Wie so viele Viertel in der Peripherie der Stadt hatte Ponte Lambro stark unter der Deindustrialisierung in den 80er Jahren und seiner relativ abgeschnittenen Lage zu leiden. Armut, schlechte Wohnbedingungen, ein Mangel an Kulturflächen, das Ausbleiben staatlicher Transferleistungen und ein schwacher gesellschaftlicher Zusammenhalt waren prägende Merkmale in den 90ern und in den folgenden zwanzig Jahren, während das Viertel offenkundig zur Heimat von immer stärker marginalisierten Gruppen wurde. 2020 – vor gerade einmal fünfzehn Jahren – galt Ponte Lambro immer noch als Problemviertel, in dem sich nur jene Menschen niederließen, die kaum eine andere Wahl hatten.

Aber wie genau haben sich „urbane Einöden“ wie Ponte Lambro in die blühenden Stadtviertel verwandelt, als die wir sie heute kennen?

Dieser Wandel findet seinen Ursprung in einer Reihe von Initiativen, die in den späten 2010er Jahren angestoßen wurden, um die Strukturen und Lebensumstände im urbanen Raum neu zu gestalten und eine tief verwurzelte Kultur der Nachhaltigkeit zu etablieren. Eine Vielzahl sozialer Akteure hat sich an dieser gemeinsamen Anstrengung beteiligt, um ein neues Verhältnis zur Lebensmittelproduktion, zum öffentlichen Verkehr, zum Bildungswesen, zum Gesundheitswesen und zu unserem sozialen Umfeld zu schaffen. Freiwilligenverbände, Stiftungen und soziale Genossenschaften haben sich eigenständig oder innerhalb größerer Netzwerke engagiert, um etwa Permakultur-Gärten anzulegen, das Bewusstsein für nachhaltige Lösungen zu stärken und ein Gemeinschaftsgefühl zwischen den vielfältigen Gruppen einer Nachbarschaft aufzubauen, wobei verschiedenste Bedürfnisse und Erwartungen miteinander verhandelt wurden.

All diese Bemühungen auf der lokalen Ebene haben dazu beigetragen, ein besseres Verhältnis der Menschen zu ihrem städtischen Umfeld und ihrer eigenen Nachbarschaft zu kultivieren; doch ihr volles Potenzial und ihre transformative Wirkung konnten sie erst durch den Green New Deal für Europa entfalten.

Der GNDE ist ein Paket gemeinsamer Maßnahmen für die Mitgliedstaaten der EU, das im Jahr 2020 beschlossen wurde und den langfristigen Erfolg dieser Initiativen entscheidend vorangetrieben hat. Er hat ein dezentralisiertes Rahmensystem geschaffen, transparente Finanzierungsmechanismen festgelegt und technische Unterstützung für die lokalen Akteure bereitgestellt, um auf die Bedürfnisse der jeweiligen Umfelder einzugehen. Zugleich hat er öffentliche Gelder in die benachteiligten Gebiete investiert und die notwendige Infrastruktur geschaffen, damit sich lokale Initiativen im Hinblick auf Wohnraum, nachhaltige Mobilität, Umweltschutz, soziale Arbeit und andere „glokale“ Anliegen möglichst wirkungsvoll entfalten.

So haben die Maßnahmen des GNDE für nachhaltige Wohnpolitik dafür gesorgt, dass ungenutzter Wohnraum zu einem beträchtlichen Teil in die Hände der lokalen Gemeinden überstellt wurde. Der Wohnungsbestand in Ponte Lambro und anderen Nachbarschaften wurde zum Teil unter die Kontrolle neu gegründeter Wohnungsgenossenschaften gestellt. Sie haben die Wohnanlagen in kleine „Cohousing-Dörfer“ umgewandelt, die auf dem Gedanken von Gemeinschaftlichkeit und einer kollektiven Verantwortung für anfallende Arbeit beruhen. Villaggio Canova am äußeren Rand von Ponte Lambro ist eines der ältesten Beispiele für diesen Ansatz. Menschen verschiedenster Hintergründe und Altersgruppen leben hier in ihrer jeweiligen Wohnung mit energiesparenden Geräten und einer extrem wirkungsvollen Wärmedämmung. Die Anwohner teilen sich Einrichtungen wie Brotbacköfen, Kunstwerkstätten, Spielplätze und intelligente Energieversorgungsanlagen. Außerdem gibt es ein zentrales „Gemeinschaftshaus“ für regelmäßige Partys, Kulturveranstaltungen und Versammlungen. Hier wird auch gemeinsam über Fragen bestimmt, die das ganze Dorf betreffen. Mittlerweile handelt es sich dabei um eine der begehrtesten Wohnanlagen im südlichen Teil von Mailand.

Auch die Fördermittel zur Anpassung anderer Wohngebäude in privater oder öffentlicher Hand an die höchsten Umweltschutzstandards haben sich nachhaltig auf das Erscheinungsbild der Nachbarschaften ausgewirkt. Die meisten Gebäude sind inzwischen mit Solarzellen und Solarheizungen ausgestattet; es gibt sogar einige Vorreiter, die so exotische Technologien wie das katalytische MOST-System zur Beheizung mit Solarenergie eingeführt haben.

Seit das Programm angestoßen wurde, hat die Zahl der Autos im urbanen Raum stark abgenommen. Grund dafür ist eine Vielzahl von Investitionen im Infrastrukturbereich – darunter etwa der kostenfreie öffentliche Nahverkehr für Anwohner, die Schaffung neuer Radwege und die Förderung nachhaltiger Mobilität durch inklusive Regelungen für den gemeinsamen Gebrauch von Fahrrädern, Dreirädern und Rollstuhlzubehör, die jeden Bedarf abdecken. Der stärkste Katalysator für diesen Wandel war jedoch das Pflegeeinkommen.

Das Pflegeeinkommen wird an alle Menschen ausgezahlt, die sich in der Pflege engagieren – ob es dabei um andere Menschen, die natürliche Umwelt oder die urbane Umgebung geht. Es handelt sich um eine europäische Initiative, die das Arbeitsleben in den Nachbarschaften und das Verhältnis zur Arbeit an sich umgekrempelt hat. Sie hat neue Möglichkeiten für sinnvolle Arbeit im lokalen Umfeld eröffnet, die schon immer als notwendig angesehen aber dennoch niemals ausreichend finanziert wurde.

Städtische Sanierungsprojekte, die jahrelang kaum vorangekommen waren, konnten endlich Fahrt aufnehmen und zu einem gelungenen Abschluss kommen. Vernachlässigte Grünflächen und Parkanlagen sind dank Initiativen unter lokaler Leitung und durch Renaturierungsprojekte erfolgreich wiederbelebt worden. Dieser Prozess hatte tiefgreifende Auswirkungen auf viele vormals heruntergekommene Flächen, darunter auch die Uferbereiche der großen Flüsse. Der Lambro – vor etwa dreißig Jahren vom Songwriter Caparezza noch als „gepeinigter Fluss“ beschrieben – ist heutzutage ein Hort der Biodiversität. Der Uferbereich ist zu einem beliebten Ziel für Ausflüge und Picknicks geworden. Der Fluss beheimatet wieder zahlreiche Fischarten, die zwischenzeitlich so gut wie verschwunden waren. Dafür sind nicht zuletzt die Anwohner verantwortlich, die sich ein paar gute Fangtechniken und Zutaten aus Polen und Rumänien abgeschaut haben, um den invasiven Flusswels zu fangen und als nahrhafte Proteinquelle zu nutzen. Inzwischen steht dieser schleimige Zeitgenosse, der zu einer ernsten Bedrohung für das ökologische Gleichgewicht im Lambro geworden war, in vielen Restaurants auf der Speisekarte. Wir haben den Flusswels in einer der kleinen Familiengaststätten am Flussufer probiert, und wir können euch versichern: Er ist ebenso schmackhaft, wie er hässlich ist.

Die nachhaltige Lebensmittelproduktion in der lokalen Umgebung hat sich dank der landwirtschaftlichen Maßnahmen des GNDE ebenfalls enorm ausgeweitet. Mit der Einführung des GNDE kam es sehr rasch zur großflächigen Entstehung urbaner Kleingärten in Molise-Calvairate-Ponti und Gratosoglio. Mittlerweile sind viele dieser frühen Projekte weit vorangeschritten und liefern große Mengen hochwertiger Bio-Lebensmittel, die für lokale Schulen und Hausgemeinschaften für Senioren oder Menschen mit Behinderung verwendet werden. Die meisten Gaststätten in der Nachbarschaft beziehen ihre Lebensmittel auch aus der unmittelbaren Umgebung – nicht zuletzt dank der vielen Zusammenschlüsse von Kleingärten, die sich vielerorts gebildet haben.

Ein Großteil der Schulen verfügt zudem über eigene Kleingärten. Die Prinzipien der Permakultur sind ebenso wie nachhaltige Lebensmittelverarbeitung und -zubereitung fest in allen Lehrplänen verankert. Das dürfte auch einer der Hauptgründe für die beständig wachsende Qualität in der Lebensmittelversorgung sein. Allein innerhalb der vergangenen fünf Jahre sind vier hiesige Restaurants in die Goldene Liga der veganen Küche in Europa aufgestiegen.

Mit seiner Lage unmittelbar neben den landwirtschaftlichen Flächen von Parco Agricolo Sud hat sich Ponte Lambro weniger stark am Ausbau der Landwirtschaft im urbanen Raum beteiligt als die benachbarten Viertel. Stattdessen wurde auf den Nachbarschaftsversammlungen in Ponte Lambro beschlossen, enge Verbindungen zu den landwirtschaftlich geprägten Stadtteilen in der Umgebung zu pflegen, um nachhaltige Lebensmittel von dort zu beziehen. Dementsprechend ist eine Reihe kleiner Genossenschaften im Bereich der nachhaltigen Lebensmittelverarbeitung in Form von Bäckereien, Brauereien und einer preisgekrönten Konservenfabrik entstanden. Die Fabrik liefert ihre Erzeugnisse an die besten Bars und Restaurants von Mailand, die Feinschmecker aus der ganzen EU mit ihrer Kombination aus lokalen Zutaten, nachhaltiger Zubereitung und multikulturellem Flair anlocken.

Die Modernisierung der Wohnanlagen, der Ausbau der öffentlichen Verkehrsnetze und die Verlagerung von Arbeitstätigkeiten haben dazu geführt, dass die berüchtigte „Cappa“ – ein ständiger Schleier der Luftverschmutzung, der seit vielen Jahren über Mailand lag und sogar auf Satellitenaufnahmen zu sehen war – nahezu verschwunden ist. Bei gutem Wetter bietet sich für Einwohner und Touristen heutzutage ein freier Blick auf die Alpen, der vom Dach der neu eröffneten Europäischen Volksbibliothek besonders gut zu genießen ist.

Die Bibliothek geht auf ein Projekt zurück, das ursprünglich vor etwa dreißig Jahren geplant und dann wieder aufgegeben wurde. Auf Wunsch breiter Teile der Bevölkerung wurde das Projekt schließlich im Rahmen der ersten partizipativen Haushaltsplanung in der Comune di Milano erneut aufgenommen.

Das Ergebnis beruht auf den modernsten Prinzipien der Passivbauweise und auf einem der eindrucksvollsten Beispiele partizipativer Planung in Europa oder womöglich auf der ganzen Welt. In der Bibliothek findet sich nicht nur eine große Sammlung verschiedenster Bücher, die sowohl Belletristik als auch Sachbücher und Forschungsliteratur mit einem besonderen Schwerpunkt im Bereich der nachhaltigen Lebensweise umfasst, sondern auch ein Freilufttheater, ein Auditorium für Kulturveranstaltungen, Gruppenräume für Schulungen oder Workshops und eigene Anlagen zur Energieproduktion. Die verwegene Spiralstruktur ist inspiriert von Friedensreich Hundertwassers Waldspirale in Darmstadt. Tausende Besucher sind seit der Eröffnung bereits durch den vertikalen Garten gestreift und haben die fantastische Aussicht auf den Duomo genossen oder die Cafeteria besucht, die – so das Urteil der Anwohner – den besten Apfelkuchen, Karottenkuchen und Rote-Bete-Kuchen in ganz Mailand anbietet; natürlich aus komplett lokalem Anbau.

Eines ist wohl sicher: Es gibt hier keinen besseren Ort, um sich mit einer Tasse Tee, einem Stück Kuchen und einem guten Buch niederzulassen, als ganz oben auf dieser Spirale. Das gilt besonders im Frühling, wenn die verschneiten Gipfel der Bergamasker Alpen von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne in einen rosaroten Glanz getaucht werden.

In diesem Sinne: Prost, oder wie es in Mailand heißt: Salute!

Laura C Zanetti Domingues und Guglielmo Miccolupi sind Mitglieder von Commando Jugendstil, einem Kollektiv italienischer Solarpunk-Autoren, die zahlreiche Kurzgeschichten und Essays rund um die Verwirklichung von Nachhaltigkeit im urbanen Raum und die Erneuerung gesellschaftlicher Narrative auf der Basis nachhaltiger Zukunftsperspektiven verfasst haben. Sie beteiligen sich außerdem an dem EU-finanzierten Projekt „Milano, Cartoline da un Futuro Possibile“ (Mailand, Postkarten aus einer möglichen Zukunft), das die Einwohner von Mailand dazu befähigen soll, nachhaltige Lösungen für die Zukunft ihrer Nachbarschaften durch partizipative und spekulative Planung zu entwerfen und zu realisieren. Ihr Artikel ist von diesem Projekt inspiriert.

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