Ein radikaler Traum

„Es ist wichtig, radikal zu sein.“ – Angela Davis

Jenes Zitat der US-amerikanischen Freiheitskämpferin Angela Davis war das Motto, das ich vor einiger Zeit für einen Flyer verwenden wollte, um für eine radikale Partei zu werben. Was mir an dem Zitat gefiel, war, dass es sich für das Radikalsein nicht entschuldigte oder Vorwände dafür brauchte (in der Klimagerechtigkeitsbewegung begegneten mir damals oft Sätze wie „Nicht wir radikalisieren uns; das Klima radikalisiert sich.“), sondern dass es das Radikalsein bejahte. Wieso ist es wichtig, radikal zu sein? Welchen Stellenwert hat dieses Wort „radikal“? Was heißt „radikal“ überhaupt?

Darüber würde ich gerne aus meiner Sicht ein bisschen schreiben.

Als ich zum ersten Mal die EU-Wahlplakate von MERA25 wahrnahm, war mein Gedanke an eine radikale Partei auf Sparflamme. Ich dachte, dass ich noch irgendwelche Vorbereitungen treffen müsste, irgendwie die ‚Bedingungen‘ für eine Gründung schaffen müsste oder so, und verschob damit meine Initiative auf ein unbestimmtes Irgendwann. „Reiche für grünen Wandel zahlen lassen“, las ich auf einem Wahlplakat und nickte kurz im Geiste. Ja, richtig. So rebellisch, realistisch, radikal wie vernünftig. Die Forderung erweckte in mir Erinnerungen an die Art von Aussagesätze, wo sich die Person nicht fürchtet, einen künstlich hergestellten Konsens zu verlassen, um die Dinge zu benennen, die notwendig und richtig sind. Ihre Radikalität entsprach einem Bedürfnis von mir.

Ich hatte das Wort „radikal“ wie einen Talisman mit mir herumgetragen. Es erheischte meine Aufmerksamkeit in Kontexten, in denen ich es ablehnte, sowie es für mich aufleuchtete, wenn ich auf Wortzusammensetzungen stieß, die mir zusagten, zum Beispiel: radikale Sorge, radikales Bewegtsein, radikale Zuversicht. Nachdem meine Identifizierung mit Radikalität stattgefunden hatte und gewissermaßen abgeschlossen war, war mir danach weiterhin bewusst, dass beispielsweise der Begriff „Radikalisierung“ für viele Menschen, die ich kenne, wahrscheinlich etwas Übles darstellt und bedrohlich wirkt. Ich teile das Verständnis auf der Internetseite von MERA25 „von ‚radikalem‘ Wandel, nicht als Extremismus, sondern als das Angehen systemischer Probleme an ihren Wurzeln, inspiriert von Persönlichkeiten wie Angela Davis.“ Ich denke, es sind oft die Leute, die am meisten von den Ungerechtigkeiten im gegenwärtigen System betroffen sind, die am meisten Einblick in die Notwendigkeit von radikaler Veränderung haben, so auch Davis als Schwarze Frau in einem von Rassismus geprägten Land.

Ich erzählte verschiedenen Personen in meinem sozialen Umfeld von meiner Idee einer radikalen Partei und wollte wissen, was sie von dem Namen halten. Nach einem Austausch mit einem Freund, in dem er einige Positionen ausgesprochen hatte, die ich als radikal bezeichnen würde, fragte ich ihn, was er von einer radikalen Partei halte. Er meinte, „radikal“ sei nie gut. Meine Mutter hatte zuvor in einem Gespräch das Wort unter anderem mit der Bedeutung „rücksichtlos“ in Verbindung gebracht; ich denke, der Freund wollte auf etwas Ähnliches hinaus. Ich konnte nachvollziehen, wie er zu dem Wort steht, wollte aber trotzdem kommunizieren, was das Wort für mich bedeutet und sprach dann von einem zärtlichen Bezug zum Radikalsein. Das war eine glückliche Formulierung, die ich mir merkte, weil sie offenbar das Interesse meines Freundes weckte und eine Art des Denkens über Radikalität, das nicht auf Rücksichtslosigkeit oder gar Gewaltsamkeit beruht, bei ihm ermöglichte. Das Wort „radikal“ war für mich immer mit „Demokratie“ zusammengegangen – „Traum von einer Radikaldemokratischen Partei Deutschland“ schrieb ich in mein Notizbuch – und „Demokratie“ bedeutet für mich „Nicht-Brutalität“. Eine radikaldemokratische Perspektive deckt sich daher mit der Vorstellung von einer nicht-brutalen Welt.

Ein Begriff wie „Nicht-Brutalität“, der zunächst mal nur das verneint, was er nicht möchte oder schlecht findet, hört sich vielleicht nicht sonderlich berauschend als Losungswort an. Aber der Wert von Nicht-Brutalität ist für mich umso mehr gestiegen, umso weniger die Politik, die ich sehe, eine nicht-brutale Zukunft zu versprechen oder zu verwirklichen im Stande scheint, umso brutaler sie wird. Um kurz nochmal auf das oben genannte Thema von Klimagerechtigkeit zu sprechen zu kommen: es ist für mich eindeutig, dass es eine nicht-brutale Zukunft nur unter der Bedingung geben wird, dass wichtige Lebensgrundlagen der Menschheit erhalten bleiben, wozu die Eindämmung der Klimaerhitzung und grüner Wandel unerlässlich sind. Insofern als bestehende politische Parteien diese Einsicht teilen, sind sie dennoch nicht bereit, das zu tun, was notwendig wäre, um dieses Ziel zu erreichen, was ich als Radikalitätsdefizit bezeichnen würde. Sie haben keinen Plan. So wie ich es sehe, gibt es momentan die Wahl zwischen Altparteien, die keine Zukunft bieten, und der AfD, die eine faschistische Zukunft bietet.

Eine Zukunftsvision zu haben ist, denke ich, ein Grundbedürfnis vieler Menschen. Keine Ahnung zu haben, wie man morgen über die Runden kommen soll oder wie eine längerfristige Zukunft aussehen kann, in der es einem gut geht, sorgt umgekehrt für kognitiven und emotionalen Stress. Das Wort „Radikalität“ kommt aus dem Lateinischen von „radicalis“, „radix“ für „Wurzel“ – genauso das „Radieschen“. Die ursprüngliche Wortbedeutung von „radikal“ spiegelt sich im heutigen Gebrauch wieder, wenn man, wie MERA25, sagt, dass wir Probleme an der Wurzel angehen wollen. Es gibt noch eine zweite Möglichkeit, die Bedeutung auf die Gegenwart zu beziehen, nämlich als Verwurzelung. In einem radikaldemokratischen Kontext bedeutet das konkret die Bemühung und den Wunsch, sich in der Vision einer nicht-brutalen Zukunft zu verwurzeln. Dazu braucht es neues politisches Terrain. Ich habe das Gefühl, dass derzeit ein großes Verlangen nach Radikalisierung im Sinne von Verwurzelung besteht. Deswegen bin ich überzeugt, dass eine radikale Partei das Potential hat, eine Partei für die breiten Massen zu sein, falls sie es schafft, verschiedene Aspekte einer nicht-brutalen Zukunft zu vereinen und die kulturellen Prozesse dahinter zu würdigen.

Ich bin mir nicht sicher, wie sich diese zwei Wortbedeutungen von „radikal“, die ich erörtert habe, – ein Problem an der Wurzel angehen / sich in einer Zukunftsvorstellung verwurzeln – genau zueinander verhalten, aber sie sind mir beide wichtig. Seitdem ich MERA25 aktiv verfolge, haben sich bei mir Gedanken getürmt, erstens rund um die Frage „Könnte ich mich da einbringen?“, und zweitens um die Frage, wie eine Welt in Frieden, Solidarität, Freiheit aussehen kann, und ich bin dankbar und freue mich, dass MERA25 einen solchen Raum geschaffen hat.

Ein Textbeitrag von MERA25-Mitglied Louis Ratzel.

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