Gegen Denkverbote: Wenn ihr Palästina cancelt, dann cancelt uns

Deutschlands Versuche, palästinensische Stimmen zum Schweigen zu bringen, werden nur zu mehr Antisemitismus, Terror und Leid führen

Anfang dieses Jahres erhielten wir eine Einladung des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin, einen Vortrag über Jugoslawien zu halten und an einer Debatte über die Bedeutung der Bewegung der Blockfreien Staaten in der heutigen Zeit teilzunehmen, und zwar im Rahmen eines Programms mit dem Titel “Lost – You Go Slavia”.

Das 1952 in Ost-Berlin gegründete und nach dem sowjetischen Schriftsteller Maxim Gorki benannte Theater wird seit langem in ganz Europa als ein integratives, kritisches und vielfältiges Zentrum für zeitgenössisches Theater gefeiert. Als Wissenschaftler:innen, die sich seit langem mit der Bewegung der Blockfreien Staaten und verschiedenen Aspekten des jugoslawischen Sozialismus und all seinen Errungenschaften, Misserfolgen und Widersprüchen befassen, fühlten wir uns geehrt, in eines der angesehensten deutschen Theater eingeladen worden zu sein, um über ein Thema zu sprechen, das uns sehr am Herzen liegt.

Die Bewegung der Blockfreien Staaten entstand als Reaktion auf die Einteilung der Welt in zwei Blöcke während des Kalten Krieges und umfasste Länder, die sich weigerten, sich auf die Seite eines der beiden Machtblöcke der Welt zu stellen. Die Bewegung vereinte Länder und kämpfte gegen Imperialismus, Kolonialismus, Neokolonialismus, Rassismus, Besatzung und ausländische Aggressionen aller Art. Zu ihren Gründungsprinzipien gehörten die Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der Selbstbestimmung.

Wie wir in der Ankündigung für die Veranstaltung im Gorki-Theater erklärten: „Wir leben heute nicht mehr in einer Welt der Machtblöcke, doch die Welt war noch nie so nah an einer nuklearen Katastrophe oder einem neuen Weltkrieg. Damit stellt uns auch die Frage der Blockfreiheit vor neue Herausforderungen. Die Frage ist nicht nur, was wir von der Bewegung der Blockfreien lernen können, sondern welche Bedeutung die Blockfreiheit heute hat.“

Wir hatten uns sehr auf die Teilnahme an der für die letzte Oktoberwoche geplanten Veranstaltung gefreut, doch am 7. Oktober kam alles anders.

Die Hamas verübte einen Angriff auf die Zivilbevölkerung im Süden Israels, bei dem etwa 1.400 Menschen getötet und Dutzende weitere entführt wurden. Israel schlug mit einer totalen Belagerung des Gazastreifens und einer Bombardierungskampagne zurück, bei der innerhalb weniger Wochen mehr als 8.000 Zivilist:innen getötet wurden.

Als Reaktion auf den Hamas-Angriff begannen Veranstaltungsorte und Institutionen in ganz Deutschland rasch damit, palästinensische Reden und Fürsprache zu canceln.

So sagte beispielsweise der deutsche Literaturverband Litprom eine Preisverleihung ab, mit der der Roman “Minor Detail” der palästinensischen Autorin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse ausgezeichnet werden sollte. Die Entscheidung über das Buch, das sich mit der Nakba und den Gräueltaten im historischen Palästina während der Gründung des Staates Israel befasst, sorgte für öffentliche Empörung. Mehr als 350 Autor:innen, darunter die Nobelpreisträgerinnen Annie Ernaux und Olga Tokarczuk, mahnten in einem offenen Brief, dass es Aufgabe der Buchmesse sei, „palästinensischen Schriftsteller:innen Raum zu geben, um ihre Gedanken, Gefühle und Überlegungen zu teilen“.

Bedauerlicherweise hat auch das Gorki-Theater beschlossen, Maßnahmen zu ergreifen, um palästinensische Stimmen als Reaktion auf den israelisch-palästinensischen Krieg zum Schweigen zu bringen. Es kündigte an, eine für den 23. Oktober geplante Aufführung des Stücks „The Situation“ von Yael Ronen zu „verschieben“. In der veröffentlichten Erklärung, wie es zu dieser Entscheidung kam, räumte das Theater seine Ohnmacht angesichts der aktuellen „Situation“ ein, fügte aber hinzu, dass „der Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel uns auf die Seite Israels stellt“. Das Theater stellte fest, dass „der Krieg eine große Vereinfachung ist“, die „eine einfache Einteilung in Freund und Feind verlangt“ und schlussfolgerte, dass „unsere Argumente mit den alten Kriegen uns bei diesem neuen nicht helfen“.

Nach reiflicher Überlegung, in deren Verlauf wir verschiedene Optionen erörtert haben, haben wir beschlossen, uns aus dem Programm des Gorki-Theaters “Lost – You Go Slavia” zurückzuziehen, um gegen dessen einseitige Erklärung zur Absage von “The Situation” zu protestieren.

Als Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen, die sich an die Kriege der jugoslawischen Nachfolge erinnern, lehnen wir das Argument, Krieg sei eine große Vereinfachung, die eine einfache Unterscheidung zwischen Freund und Feind erfordert, vollständig ab. Die berechtigte Verurteilung des Angriffs der Hamas auf Israel kann und darf niemals als Rechtfertigung für die anhaltenden Aktionen des israelischen Militärs in Gaza dienen. Der Verlust von zivilen Leben auf beiden Seiten des Konflikts ist eine Tragödie. Doch nichts kann jemals Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen oder Völkermord rechtfertigen, wie unsere Erfahrung lehrt.

Wir sind uns bewusst, dass eine Diskussion über die Relevanz der Bewegung der Blockfreien Staaten in der heutigen Zeit notwendiger denn je ist.  Angesichts des gegenwärtigen Klimas in Deutschland, in dem Stimmen, die sich für die Palästinenser:innen einsetzen, zunehmend zum Schweigen gebracht werden, ist es in der Tat von entscheidender Bedeutung, die langjährige und aufrichtige Unterstützung der Bewegung der Blockfreien Staaten für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes und die Verurteilung der israelischen Besatzung des Gazastreifens und des Westjordanlandes zu verdeutlichen – was unsere Debatte in Gorki unweigerlich beinhaltet hätte.

Unser Rückzug von der Veranstaltung im Gorki-Theater zielt in keiner Weise darauf ab, uns aus diesem wichtigen und dringenden Gespräch zurückzuziehen. Vielmehr ist es ein Versuch, den deutschen Institutionen den Spiegel vorzuhalten und ihnen die Kurzsichtigkeit ihrer Haltung zur aktuellen Situation in Israel-Palästina zu vermitteln.

Wir sind der Meinung, dass gerade heute Institutionen wie das Gorki-Theater ihre Bemühungen nicht darauf konzentrieren sollten, palästinensische Standpunkte zum Schweigen zu bringen, sondern Menschen zusammenzubringen, um über Geschichte zu diskutieren, die Politik zu kritisieren und auf den Aufbau einer Welt hinzuarbeiten, die die gesamte Menschheit gleichberechtigt zusammenhalten kann.

Im Gegensatz zum Theater glauben wir nicht, dass „unsere Auseinandersetzungen mit den alten Kriegen uns in diesem neuen nicht weiterhelfen“. Im Gegenteil, wir glauben, dass der brutale Zusammenbruch Jugoslawiens und die darauf folgenden blutigen Kriege, die einen Großteil der 1990er Jahre bestimmten, viele Lehren für unsere aktuellen Kriege enthalten. Schließlich sieht dieselbe internationale Gemeinschaft, die es damals versäumt hat, ethnische Säuberungen und Völkermord zu verhindern, heute wieder tatenlos zu, wie sich ähnliche Gräueltaten vor unseren Augen in Gaza abspielen.

Und vom sozialistischen Jugoslawien und der differenzierten Haltung der Bewegung der Blockfreien Staaten zu Palästina-Israel kann man viel lernen, gerade jetzt, wo der jahrzehntealte Konflikt an einem weiteren Wendepunkt steht.

Seit dem jugoslawischen nationalen Befreiungskampf während des Zweiten Weltkriegs, an dem Jüd:innen aktiv teilnahmen (zehn Jüd:innen wurden zu nationalen Helden des Widerstands ernannt, darunter einer von Titos engsten Mitarbeitern, Moša Pijade, der “Das Kapital” ins Serbokroatische übersetzte), vertrat die jugoslawische Führung – unterstützt von Präsident Josip Broz Tito selbst – die Auffassung, dass das jüdische Volk das Recht auf einen eigenen Staat habe. Anfang 1953 traf Tito bei einem Besuch in Großbritannien mit dem politischen Direktor des Jüdischen Weltkongresses in London, AL Easterman, zusammen, der seine Zufriedenheit mit der Haltung der jugoslawischen Regierung gegenüber dem jüdischen Volk zum Ausdruck brachte.

Gleichzeitig endeten während des gesamten Bestehens des sozialistischen Jugoslawiens alle Abschlusserklärungen der Bewegung der Blockfreien Staaten mit der Unterstützung des palästinensischen Volkes und der Verurteilung des Zionismus als einer Form von Rassismus, Kolonialismus und Apartheid.

Auf dem ersten Gipfel der Blockfreien Staaten 1961 in Belgrad wurde einstimmig die Unterstützung „für die vollständige Wiederherstellung aller Rechte des arabischen Volkes von Palästina in Übereinstimmung mit der Charta und den Resolutionen der Vereinten Nationen“ zum Ausdruck gebracht.

Während des Sechstagekriegs 1967 brach das sozialistische Jugoslawien die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab und nahm sie bis zu seiner eigenen Auflösung im Jahr 1991 nie offiziell wieder auf.

Auf einem Treffen der Außenminister der Bewegung der Blockfreien Staaten in New York im Jahr 1977 betrachteten die Minister:innen „die Errichtung israelischer Siedlungen im Westjordanland und im Gazastreifen“ als „eindeutigen Versuch, die Annexion dieser Gebiete vorzubereiten, sowie die Eskalation der israelischen Übergriffe und Unterdrückungspraktiken in diesem Gebiet“. Die Minister:innen betrachteten diese Aktionen als „ein Hindernis für die Bemühungen um einen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten“.

Mit anderen Worten, die Haltung des sozialistischen Jugoslawiens und der Bewegung der Blockfreien Staaten zu Israel-Palästina ist ein gutes Beispiel dafür, wie man sowohl gegen den Zionismus und für die Existenz des Staates Israel sein kann, während man gleichzeitig das palästinensische Volk in seinem Kampf gegen Rassismus, Kolonialismus und Apartheid unterstützt.

Dies ist offensichtlich ein Standpunkt, der heute in Deutschland wenig beachtet oder gar willkommen ist. Wenn es um Israel-Palästina geht, scheinen Deutschland und auch der Rest des Westens unter dem zu leiden, was die Deutschen selbst treffend als Denkverbot bezeichnen.

Unsere Entscheidung, uns von der Veranstaltung im Gorki-Theater zurückzuziehen, war ein bescheidener Protest gegen dieses aktuelle Denkverbot. Es war ein Versuch, ein Schlaglicht auf die Bemühungen zu werfen, Palästina zum Schaden aller aus dem öffentlichen Diskurs in Deutschland zu streichen.

Wir trauern um alle unschuldigen Opfer dieses Konflikts und verurteilen den Antisemitismus in all seinen Formen, warnen aber davor, dass die aktuellen Denkverbote in Deutschland und darüber hinaus, wenn sie nicht dringend bekämpft werden, genau zum Gegenteil ihrer Ziele führen wird – nämlich zu mehr Antisemitismus, mehr Terror und einer anhaltenden Unfähigkeit, Frieden im Nahen Osten zu erreichen. 


This article was originally published on Al Jazeera

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