Israel: Was bedeutet eigentlich „jüdischer und demokratischer“ Staat im Jahr 2023?

Seit seiner Gründung wird Israel von vielen als „jüdischer und demokratischer“ Staat betrachtet, eine Vorstellung, die sich teilweise bereits in der Erklärung über die Gründung des Staates Israel von 1948 widerspiegelt. Diese Erklärung leitet die israelische Gesellschaft und die politischen Entscheidungsträger:innen. Aspekte davon haben ihren Weg in die staatliche Gesetzgebung, in Maßnahmen der Exekutive und in Entscheidungen der Justiz gefunden.

Wahrscheinlich so alt wie die Vorstellung von einem „jüdischen und demokratischen“ Staat ist die Debatte darüber, inwieweit es sich bei diesen beiden Merkmalen um widersprüchliche Prinzipien handelt und wie man die Widersprüche zwischen beiden in Einklang bringen kann. Einige würden sagen, dass es überhaupt keinen Widerspruch gibt, da ein „jüdischer“ Staat keineswegs undemokratisch ist. Andere würden diese Aussage durch eine zusätzliche Bedingung relativieren und sehen keinen Widerspruch in einem Israel, das sowohl „jüdisch“ als auch „demokratisch“ ist – solange die Mehrheit seiner Bürger jüdisch ist. Einige würden noch weiter gehen und eine „übergroße“ Mehrheit voraussetzen.

Unter denjenigen, die zugeben, dass zumindest unter bestimmten Umständen die „jüdische“ und die „demokratische“ Natur des Staates im Widerspruch zueinander stehen könnten, sind verschiedene Ansätze entstanden, um mit dem Konflikt umzugehen. Einer davon ist die Interpretation von „jüdisch und demokratisch“ als in erster Linie „jüdisch“ und erst in zweiter Linie „demokratisch“, d. h. die „jüdische“ Natur des Staates hat im Zweifelsfall Vorrang vor seiner „demokratischen“ Natur.

Viele haben scherzhaft bemerkt, dass die Definition eines „jüdischen und demokratischen“ Staates darin besteht, dass er sich gegenüber seiner jüdischen Bevölkerung demokratisch verhält. Dieser Scherz enthält mehr als nur ein Körnchen Wahrheit und beschreibt – nicht allzu ungenau – die Realität in Israel seit seinen Anfängen. Und er ist wichtig, um das Ausmaß der bevorstehenden Veränderungen zu verstehen, mit denen die israelische Gesellschaft derzeit konfrontiert ist – und die Gegenreaktion darauf.

“Jüdisch”

Bevor man die Frage nach der Vereinbarkeit von “jüdisch” und “demokratisch” beantworten kann, stellt sich eine noch grundlegendere Frage: was es für Israel überhaupt bedeutet, ein „jüdischer“ Staat zu sein. Für die einen bedeutet es ein Staat, dessen Bevölkerung mehrheitlich – oder vielleicht sogar „in seiner übergroßen Mehrheit“ – jüdisch ist. Einige erwarten von einem „jüdischen“ Staat, dass er als „nationale Heimat“ für alle Juden in der Welt dient – und insbesondere, dass er jedem einzelnen von ihnen die Einwanderung und die Staatsbürgerschaft ermöglicht. Einige wollen, dass das öffentliche Leben in diesem Staat von der jüdischen Kultur geprägt ist. Und für einige ist ein wahrer „jüdischer“ Staat ein Staat, der nach den jahrhundertealten jüdischen Gesetzen – der Halacha – regiert wird.

Jede der oben genannten Auslegungen ist nicht klar definiert. Selbst die Befürworter einer Auslegung sind in einigen – möglicherweise nicht unbedeutenden – Details unterschiedlicher Meinung. Und natürlich gibt es viele Unterschiede zwischen diesen Auslegungen. Das bedeutet, dass es in der israelischen Gesellschaft viele verschiedene Gruppen mit sehr unterschiedlichen – und widersprüchlichen – Ideen und Visionen für Israel als „jüdischen“ Staat gibt (ganz zu schweigen davon, wie das in Verbindung mit „demokratisch“ funktionieren soll).

Über Generationen hinweg glaubten viele Jüd:innen (und später Israelis), dass ein „jüdischer“ Staat sinnvoll ist. Viele halten diese Idee nicht nur für sinnvoll, sondern für zwingend notwendig. Viele Israelis haben buchstäblich bis zum Tode gekämpft, um diesen Traum erst zu verwirklichen und später zu erhalten. Aber stellt die Idee eines „jüdischen“ Staates wirklich ein ausreichend solides Fundament dar, auf dem ein Land aufgebaut und erhalten werden kann – vor allem, wenn die Vorstellungen so weit auseinander gehen? 

“Demokratisch”

Im Gegensatz zu der Frage, was es für einen Staat bedeutet, “jüdisch” zu sein, denken manche, dass es völlig klar ist, was es für einen Staat bedeutet, „demokratisch“ zu sein. In der Praxis ist dies nicht der Fall. Für viele muss ein Staat, um „demokratisch“ zu sein, einige gut etablierte demokratische Grundsätze befolgen, darunter (aber nicht nur): Souveränität des Volkes (Staatsbürger:innenschaft, Zustimmung der Regierten), Gleichheit vor dem Gesetz, Verpflichtung auf die Menschenrechte (Recht auf Leben und Freiheit, Minderheitenrechte, Religionsfreiheit), strukturelle Beschränkungen der Macht Einzelner (Gewaltenteilung, Checks and Balances). Aber es scheint, dass für viele Israelis „Demokratie“ einfach „die Herrschaft der Mehrheit“ bedeutet.

Seit seiner Gründung ist Israel eine „Demokratie“ in diesem letzteren Sinne. Im ersten Sinne – nicht so sehr. Vor allem nicht gegenüber seiner arabischen Bewohner:innen, seien es israelische Araber:innen, die bis 1966 unter Kriegsrecht lebten und die, obwohl sich ihre Situation seitdem verbessert hat, nie wirkliche Gleichberechtigung genossen haben, oder Araber:innen, die in den 1967 von Israel eroberten Gebieten leben und seit Jahrzehnten Untertanen Israels sind – aber keine Staatsbürger:innen.

Jedoch hat sich der Staat Israel – wie bereits erwähnt – gegenüber seiner jüdischen Bevölkerung viel mehr wie eine echte Demokratie verhalten. Nicht vollständig, zum Beispiel wird die Religionsfreiheit in Israel so ausgelegt, dass es jedem freisteht, „in Übereinstimmung“ mit „seiner“ Religion zu leben, mit dem Vorbehalt, dass die Religion für die Betreffenden ausgewählt wird und ein Leben in Übereinstimmung mit ihr bedeutet, dass man einige Aspekte seines Lebens der Behandlung durch staatlich anerkannte offizielle religiöse Institutionen unterwirft, und durch etablierte Normen, die als „Status quo“ bekannt sind.

Das bedeutet zum Beispiel, dass ein jüdischer Rabbiner, der im „jüdischen und demokratischen“ Staat jüdische Paare nach dem jüdischen Religionsgesetz traut, eine Gefängnisstrafe riskiert, wenn er nicht im Auftrag des Rabbinats handelt. Das bedeutet auch, dass der Betrieb öffentlicher Verkehrsmittel in jüdischen Städten während des Sabbats gesetzlich verboten ist – selbst in Städten, in denen die meisten Jüd:innen den Sabbat nicht einhalten. Und auch säkulare Jüd:innen können nur über das Rabbinat heiraten – was für manche Paare ebenfalls einige Einschränkungen mit sich bringt. Und (mit Ausnahme einer muslimischen Ehe zwischen einer jüdischen Frau und einem muslimischen Mann) dürfen Jüd:innen keine Nicht-Jüd:innen heiraten (was zwar eine andere offizielle Begründung hat, aber den Nürnberger Gesetzen frappierend ähnlich ist). Das ist keine ideale Situation, aber irgendwie haben die meisten Israelis sie ertragen, vielleicht weil sie andere Probleme, die ihr Land und ihre Existenz betreffen, als wichtiger ansehen.

Und so hat die große Mehrheit der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit über die Jahre hinweg Israels Behandlung seiner arabischen Bürger:innen und Untertanen weitgehend akzeptiert, sei es aus Zustimmung, sei es aus Ignoranz oder Gleichgültigkeit, sei es aus einem Gefühl der Hilflosigkeit heraus. Analog dazu hat die große Mehrheit der säkularen jüdisch-israelischen Öffentlichkeit über Jahre hinweg Israels fehlende Religionsfreiheit (oder Freiheit von der Religion) weitgehend akzeptiert, zum großen Teil aufgrund des Gefühls, dass dies ein notwendiges Übel ist, das man akzeptieren muss, um einen „jüdischen“ Staat zu erhalten und größere Übel zu vermeiden. Schließlich war für viele israelische Jüd:innen das Leben in einem Israel, das sich gegenüber seiner jüdischen Bevölkerung weitgehend demokratisch verhält, gar nicht so schlecht.

Bevorstehende Veränderungen und Proteste

Doch Anfang 2023 hat die neu gebildete israelische Regierung, die aus einer Koalition mehrerer Parteien und Politiker:innen mit unterschiedlichen Motivationen besteht, die irgendwie Hand in Hand gehen – einige wollen die Siedlungen ausbauen und Israels Kontrolle über die besetzten palästinensischen Gebiete vertiefen, andere wollen eine messianische Vision verwirklichen und ihre Vorstellung von einem „jüdischen“ Staat fördern, der mehr der Halacha entspricht, und einige, die strafrechtlich angeklagt sind und möglicherweise ihre eigene Haut retten wollen – haben sich daran gemacht, einen Plan umzusetzen, der als „Justizreform“ präsentiert wird und verschiedene Gesetzesänderungen umfasst, die auf eine „Stärkung der Demokratie“ abzielen, in dem Sinne, dass die Justiz geschwächt wird und die Exekutive mehr Kontrolle über sie erhält. Im Grunde wird die „Demokratie“ im Sinne der Herrschaft der Mehrheit gestärkt, und zwar auf Kosten der anderen „Demokratie“, derjenigen mit Gewaltenteilung und Checks and Balances, derjenigen, in der die Macht der Regierung, Menschen- und Minderheitenrechte zu verletzen, eingeschränkt ist. Deshalb sehen die Gegner:innen des Plans darin nichts anderes als einen Putschversuch von oben.

Die israelische Öffentlichkeit reagierte sofort mit einem Ausbruch von vielseitigen Protesten. Es scheint, dass die Bedrohung des Status quo, also dieser (Beinahe-)Demokratie für die jüdische Bevölkerung, die Menschen auf die Straße treibt. Es scheint auch eine größere Gruppe Israelis als zuvor zu geben, die sich dem, was Israel in den palästinensischen Gebieten tut, widersetzt, vielleicht weil sie die Besatzung und die aus ihr hervorgegangenen politischen Kräfte mit der bevorstehenden Veränderung des Wesens Israels in Verbindung bringen. Auch der Diskurs über die Unvereinbarkeit der verschiedenen jüdischen Gruppen und über die Unmöglichkeit, in einem Land zusammen zu leben – einschließlich der Gedanken an einen Bürgerkrieg und/oder die Trennung in zwei Staaten – nimmt zu. Und vielleicht ist es höchste Zeit.

Über den Autor

Tom Yuval ist ein nicht-nationalistischer atheistischer israelisch-deutscher (in Israel geboren und aufgewachsen, Deutscher kraft Geburtsrecht und seit über einem Jahrzehnt in Deutschland lebend) jüdischer (nur aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit) Mathematiker und Software-Ingenieur und ein ehemaliger politischer Aktivist.

 

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