NACH DEM SPIEL IST VOR DEM SPIEL – Kommentar zum #MarchForANewEurope

Morgen findet in ganz Europa der March for a New Europe statt. In Deutschland wird es neben Berlin und München auch in Köln eine Demonstration geben.
Corinna und Georg Mitorganisatoren des Kölner Demo-Bündnis schreiben in Ihrem Aufruf, warum wir gerade jetzt für ein neues Europa kämpfen müssen.

“Organize, agitate, educate, must be our war cry.”
(Susan B. Anthony, US-amerikanische Frauen- und Bürgerrechtsaktivistin, 1820-1906)

WER SICH POLITISCH OHNMÄCHTIG FÜHLT, BRAUCHT POLITISCHE HOFFNUNG

Wie war das noch, als wir vor nun zwei Jahren über das Ergebnis des Brexit-Referendums erfahren haben? Was haben wir persönlich gedacht, was haben wir gefühlt, was haben wir gemacht? Das haben wir uns nun in den Vorbereitungen auf den March For A New Europe Köln gefragt und mussten ironischerweise über das diesjährige Champions League-Finale und die zwei kapitalen Fehler des Liverpool-Torwarts Loris Karius sprechen. Dazu aber später mehr. Wir erinneren uns noch ziemlich genau, wie die Brexit-Entscheidung, dieses kaum vorstellbare politische Ereignis, schlagartig unseren Blick auf die Welt und die Zukunft Europas verdunkelt hat. In Gesprächen mit Freund*innen zeigte sich aber schnell, dass unsere Reaktion keine politische Ohnmacht sein dürfte, sondern – wie bei vielen anderen in Europa – eine Radikalisierung unseres Kampfes für Menschlichkeit und Gerechtigkeit.
Als Künstler*innen und Aktivist*innen entschieden wir uns aufgrund des auch hier in Deutschland voranschreitenden Rechtsrucks und des gleichzeitigen hoffnungsvollen Aufkommens einer ersten paneuropäischen Bewegung wie Diem25 dazu, die Schule der politischen Hoffnung zu gründen – eine Institution, die real existierende Alternativen aus Europa und der Welt und progressive Menschen zusammenbringen will. Unser Ziel sollte von Anfang an sein, hier von Köln aus am Aufbau einer progressiven Allianz mitzuarbeiten, die die vielen Gerechten – von Linken über Sozialdemokraten und Grüne bis hin zu tatsächlich bürgerrechtsnahen Liberalen und vielleicht sogar werteorientierten Konservativen – für ein neues europäisches Projekt der politischen Hoffnung organisiert.

WER EUROPA WILL, MUSS EIN ANDERES EUROPA WOLLEN

Der March For A New Europe ist ein solches Bündnis für ein neues soziales Europa der Demokratie, der Nachhaltigkeit und der Solidarität – ein Europa, das sich aus der Scheinheiligkeit befreit und seine Ideale mit großen Taten und nicht nur mit schönen Worten bezeugt. Dieses Bündnis hat sich u. a. auf Initiative von Katja Sinko (The European Moment) und Ulrike Guérot (European Democracy Lab) in kürzester Zeit aus Berlin in zahlreiche andere europäische Städte wie London, Lissabon und auch Köln ausgebreitet (Danke, Daniel Ullrich, Janina Urban, Sergej Antonovitsch Usov und Robin Scheben für den March For A New Europe Köln!). Wir freuen uns, dass alleine hier in Köln 20 Initiativen und Organisationen gemeinsam zum Marsch für ein neues Europa aufrufen.
Denn es ist Zeit, dass die progressiven und liberalen Kräfte – trotz ihrer nicht unwichtigen Differenzen vereint im gesunden Menschenverstand – gemeinsam in einen paneuropäischen Chor der Vielen einstimmen: “Wir werden an diesem Tag nicht schweigen – wir setzen ein Zeichen für unsere Idee von einem besseren Europa! Jetzt sind wir dran! Wir stellen uns gegen die rückwärtsgewandte und nationalistische Stimmungsmache, die die gesellschaftliche Debatte prägt.” Die Zeiten sind vorbei, in denen ein Dagegen ausgereicht hat: “Wir wollen Europa. Doch wer Europa will, muss ein anderes Europa wollen.” Denn “Freiheit, Wohlstand und Frieden”, das europäische Projekt des 20. Jahrhunderts, waren und sind gefährdet, wenn gleichzeitig Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Kriege in der Welt, in Europa und auch hier in Deutschland toleriert oder sogar befeuert werden.

WER REGIERT, HAT NICHT NOTGEDRUNGEN AUCH DIE MACHT

Es sind zwei Jahre vergangen, die Zeiten rasen gefühlt schneller denn je, überall ändern sich faktisch Recht, Moral und Handeln – und das nicht zum Guten. Doch es gibt konkrete politische Hoffnung: In Großbritannien konnten sich die Konservativen um Theresa May nach dem Brexit und den darauf folgenden Neuwahlen zwar noch an der Regierung halten, den Siegeszug der The Labour Party um die Momentum-Bewegung und Jeremy Corbyn werden sie jedoch nicht aufhalten können. In Großbritannien zeigt sich: Wer regiert, hat nicht notgedrungen auch die Macht. Das gilt nun endlich auch wieder für Progressive, und nicht nur für Pegida, UKIP, Alt-Right & Co.
Die von unten aus den politischen Bewegungen bis nach oben in die politischen Parteien erkämpfte Gunst der Stunde ist – zumindest in einigen Ländern – wieder auf der Seite der Progressiven, die sich vor allem den Kampf gegen die Privatisierung aller öffentlichen Güter auf die Fahne geschrieben haben. Das hat nicht nur die Debatte nach dem Brand des Grenfell-Towers gezeigt, sondern vor allem auch der Auftritt Corbyns auf dem Glastonbury Festival im letzten Jahr: Die junge Generation der Briten ist nach dem Brexit aus dem politikverdrossenen Schlaf erwacht und wandelt die alptraumhafte Schockstarre Tag für Tag in politische Energie um – und sie treibt endlich klug, leidenschaftlich und siegesgewillt die Konservativen und die Nationalisten vor sich her.

WER WANDEL SAGT, MUSS AUCH WIDERSTAND SAGEN

Auf dem europäischen Kontinent ist in vielen Städten eine ähnliche Stimmung spürbar, vor allem in den südeuropäischen Ländern, wo Rebel Cities nicht nur mit schönen Worten die Menschlichkeit schützen, sondern Tag für Tag um jedes einzelne Menschenleben kämpfen – seien es Geflüchtete oder Arbeitslose, Frauen, Homo- und Transsexuelle, Wohnungslose, Kranke u. v. m. Denn diese sind es, die zu den Verwundeten des Neoliberalismus und den schutzlosen Zielen des Hasses der rechten Menschenfeinde gehören. In Deutschland wähnt man sich dagegen immer noch auf der Insel der Glückseligen – auch wenn mit der AfD der Rechtsruck bereits in den Bundestag Einzug gehalten hat und die CSU sich mit ihrer Spaltung der Regierung als rechtspopulistische Partei profiliert.
Dass potenziell progressive Parteien in diesem Land weiterhin in politischer Lähmung verharren, ist mehr als enttäuschend: Neben dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei denen nach langer Zeit zumindest wieder ein wenig (berechtigte?) Hoffnung aufkeimt, stehen eine nach der #NoGroKo-Kampagne auf Selbstmordkurs steuernde SPD und eine in großen Teilen orientierungslose DIE LINKE, der es (noch?) nicht gelingt, der Verführung einer linksnationalistischen “Sammlungsbewegung” für die deutschen Arbeitnehmer*innen zu widerstehen und diese – wie es viele progressive Stimmen fordern – in eine Welt zu integrieren, die soziale Gleichheit und ökonomische Gerechtigkeit nicht als Privileg einiger weniger Nationen sondern als globale Rechte der Vielen sichert.

WER MIT RECHTEN REDEN WILL, SOLLTE LIEBER DEN GERECHTEN ZUHÖREN

Die Vielen in Großbritannien, Europa und der Welt brauchen uns gerade dringend – so dringend, dass wir endlich entschieden unsere Probleme angreifen sollten. Anstatt die Demokratie zu verteidigen, die überholten Braunkohlekraftwerke herunterzufahren, den ländlichen Raum zu stärken, die Städte für eine grüne Zukunft umzubauen und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, die Demütigungen in Jobcentern, die Entwürdigungen in Flüchtlingsheimen und die Verzweiflung in Willkommensinitiativen zu beenden …, debattieren wir immer noch über die Frage, wie man mit Rechten reden sollte, um ihre Sorgen ernst zu nehmen. Die neurechten Funktionäre und Ideologen sind jedoch nicht an Gesprächen interessiert, sie werden ihren Worten Taten folgen lassen. Das sollte mittlerweile hinlänglich bekannt sein.
Wer mit Rechten reden will, sollte sich zuerst fragen, warum er nicht mit den vielen Gerechten reden will, die tagtäglich auf verlorenem Posten für eine gerechte Gesellschaft der Vielen kämpfen. Sie sind es, die sich wirklich um die vielen Verwundeten und Schutzlosen von Syrien bis Sachsen sorgen. Statt die vermeintlichen Ängste vor Geflüchteten, Muslimen und der “großen Weltverschwörung” durch eine rechtspopulistische Ausrichtung unserer Politik “ernstzunehmen”, sollten wir vielmehr versuchen, die hoffnungslose “German Angst” in Solidarität mit diesen vielen Gerechten in Europa und der Welt umzuwandeln.

WER NICHT NOCHMAL VERLIEREN WILL, MUSS GEWINNEN WOLLEN

Wenn wir nun sehen, wie unsere Freund*innen in Großbritannien, in Südeuropa und in unterschiedlichsten Regionen dieser Welt für eine bessere Zukunft kämpfen, ist es umso ernüchternder, dass der Zerfall der Europäischen Union weiter voranschreitet und das vorherrschende Gefühl immer noch die politische Apathie ist. Kommen wir aber nun zum anfangs erwähnten diesjährigen Champions League-Finale und den zwei Fehlern von Loris Karius, die uns an die Brexit-Entscheidung vor zwei Jahren erinnert haben.
Waren wir Brexit-Gegner nicht vor zwei Jahren im gleichen Zustand wie der gehirnerschütterte Loris Karius nach einem regelwidrigen Ellbogenschlag von Real Madrid-Verteidiger Sergio Ramos, dessen Fehler den legendären Arbeiterverein FC Liverpool gegen einen der reichsten und höchstverschuldeten Clubs der Welt den größten europäischen Titel kosteten? Fassungslos realisierten wir erst in der späteren Zeitlupe, dass er dem Gegner völlig benommen den Ball vor die Füße gelegt hatte und der diesen nur noch ins Tor einschieben musste, bevor Gareth Bale später erst per Fallrückzieher und dann aus völlig aussichtsloser Position per Weitschuss Karius ultimativ demütigte.

WER LACHEN WILL, MUSS MIT DEM WEINEN AUFHÖREN

Kurzzeitig hatte es nach dem ersten Fehler sogar noch 1:1 gestanden und wir gaben uns wie damals vor der endgültigen Brexit-Entscheidung unseren Träumen hin – dass “die Guten” siegen würden. Vor den Augen der ganzen Welt spielte sich dann jedoch die tragische, aber trotzdem verdiente Niederlage ab. Karius lag am Boden, verlassen von seinem Team und seinem Trainer, der Schuldige war ausgemacht, die Kameras suchten das weinende Gesicht. Auf der anderen Seite flossen Freudentränen, die in ekstatisches Gelächter übergingen. Im Hintergrund hörte man wieder „You’ll Never Walk Alone“ – das melancholische Solidaritätslied der Liverpool-Fans. Im Gegensatz zum Spielbeginn tönte es nun in unseren Ohren nur noch wie ein Trauerlied.
Was aber bleibt aus dieser Schmach zu lernen? Es gilt wie immer Sepp Herbergers alte Fußballweisheit: “Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.” Nächstes Mal sind wir dran … Die persönliche Regenerationsphase nach dem Brexit-Schock, die unzähligen Kommentare in den sozialen Medien und die Fehleranalysen im Feuilleton sind abgeschlossen. Nun gilt es, sich allerorten optimal auf die kommenden Finalspiele gegen die Rechtspopulisten vorzubereiten, damit wir nicht immer wieder in die politische Defensive geraten oder bei einem Vorstoß unsererseits gnadenlos ausgekontert werden und wieder aus Ehrfurcht vor dem scheinbar übermächtigen Gegner verlieren. Es gilt selbstbewusst und leidenschaftlich zu kämpfen, im Kollektiv taktisch klug zu agieren und eine eigene Vision auf den Platz zu bringen, die die Vielen begeistert. Denn wir können uns keine weiteren Fehler, Nachlässigkeiten oder Träumereien mehr leisten. Es geht um alles.
Kommt am 23. Juli 2018 ab 11:45 Uhr zum March For A New Europe. Demonstriert auf den Straßen Europas für ein neues soziales Europa der Demokratie, der Nachhaltigkeit und der Solidarität. Unsere Freund*innen in Europa und der Welt warten auf uns, dass wir in den solidarischen Chor der Vielen einstimmen: “You’ll Never Walk Alone”. Werden wir ein Teil dieser Vielen, die sich hier und jetzt schon für die zukünftige Gesellschaft der Vielen organisieren, bilden und mobilisieren. In Köln haben Steve Hudson und Labour Germany zu diesem Anlass in Gedenken an die ermordete britische Politikerin Jo Cox im Anschluss ein großes Great Get Together in Cologne initiiert. Wie Jo Coc selbst gesagt hat: „We are far more united and have far more in common with each other than things that divide us.“
 
NACH DEM SPIEL IST VOR DEM SPIEL
Ein Weckruf an die Vielen, die vom Brexit gelernt haben
von Georg Blokus und Corinna Ujkasevic (Schule der politischen Hoffnung)
22.06.2018
 
 
Georg und Corinna sind Initiatoren von der Schule der politischen Hoffnung, zu denen bereits Yanis Varoufakis, Srećko Horvat und viele weitere einen Beitrag leisteten.

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