Keine Empörung

Heutzutage ist jeder beleidigt. In den sozialen Medien kocht die Wut über vermeintliche Beleidigungen hoch. Die Kulturkriege zeigen keine Anzeichen eines Abklingens. Das Overton-Fenster verengt sich. Heilige Kühe werden geschlachtet, links und rechts.

Dafür gibt es zwei Gründe: Das kulturelle Moment, vor allem unter jungen Menschen, hat das Beleidigtsein als Reaktion auf Meinungsverschiedenheiten normalisiert. Und das Establishment erzeugt Beleidigung, um den Status quo zu erhalten.

Was bedeutet das für uns als Aktivist:innen? Und was können wir dagegen tun?

Ein Angriff auf deine Selbstidentität

Beleidigt zu sein ist eine eigenartige menschliche Emotion. Psycholog:innen definieren es als:

ein Gefühl, das durch einen Angriff auf die Ehre einer Person ausgelöst wird, weil er dem Selbstkonzept und der Identität dieser Person widerspricht

D.h., es stellt deine tiefsten Überzeugungen in Frage – das, was du über dich selbst glaubst. Oder einfacher ausgedrückt:

Laut einer Studie der Universität Roma Tre schmerzt es mehr, wenn die Täter:in jemand ist, den man respektiert. Wenn du eine Beziehung zu ihr hast, sogar noch mehr. Und wenn dein Selbstwertgefühl niedrig ist, noch mehr.

Manchmal ist es gerechtfertigt, sich beleidigt zu fühlen. Jeder Mensch hat  Schwachstellen, die von anderen angegriffen werden können, sei es aus Versehen oder nicht. Wenn jemand bemerkt, dass mir die Haare ausfallen oder ich im mittleren Alter nicht mehr in Form bin, werde ich nicht begeistert sein.

Und wir sollten uns immer gegen Intoleranz und Engstirnigkeit wehren und sie anprangern. Das ist Teil einer umfassenderen Strategie, sie zu bekämpfen.

Aber wie ich weiter unten darlege, arbeitet Beleidigung – oder genauer gesagt, was uns dazu bringt, uns beleidigt zu fühlen – fast immer gegen uns. Als Aktivist:innen. Als Teamkamerad:innen. Als Menschen.

„Safetyismus“ und der öffentliche Beschämungszyklus

Ein Großteil des Beleidigt-Seins in den sozialen Medien sieht heute so aus:

X glaubt, dass Y einen ethischen Verstoß begangen hat. X behauptet, er fühle sich beleidigt. Sie sehen Y als engstirnig oder gefährlich an. Sie beschweren sich lautstark, und andere sammeln sich zur Unterstützung.

Eine lose Kampagne beginnt. Die von X und Co. geforderte Wiedergutmachung ist in der Regel eine Entschuldigung von Y. Aber ob Y sich nun entschuldigt oder nicht, damit ist es selten getan. Das „beleidigte“ Verhalten von X und Co. eskaliert in der Regel, bis es zu drastischen Konsequenzen für Y führt, wie beim Kreislauf des öffentlichen Beschämens:

Dieser Kreislauf führt dazu, dass immer häufiger versucht wird, Redner:innen von Universitäten auszuladen, unabhängige Podcast-Modorator:innen aus dem Programm zu nehmen,  oder Ansichten ganz zu zensieren. Und in extremen Fällen werden der Ruf und die berufliche Existenz ruiniert. Dies geschieht immer häufiger und mit immer größerem Erfolg.

Warum? Dem Soziologen Jonathan Haidt zufolge hat die „paranoide Erziehung“ eine zerbrechliche Generation hervorgebracht, die von der Kultur des so genannten „Safetyismus“ durchdrungen ist. Es begann mit der Generation Z – den zwischen 1995 und 2012 Geborenen – und breitet sich nun auf ältere Gruppen aus.

In einer Kultur des Safetyismus sollte man immer auf seine Gefühle vertrauen können und sie um jeden Preis schützen. Wenn also jemand beleidigt wird, ist es, als ob ihm Gewalt angetan wurde. Andere scharen sich um das „Opfer“, und das Gefühl verbreitet sich schnell. Beleidigt zu sein, verleiht einem besondere Rechte unter seinesgleichen.

Eine Kaskade der Empörung

Beleidigung ist Kryptonit für Aktivist:innen. Wenn man beleidigt ist, reagiert man ausschließlich reaktiv. Man schlägt um sich, schießt in alle Richtungen und giert nach Wiedergutmachung. Das lenkt die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Ziel ab.

Wenn man beleidigt ist, hat das auch einen Kaskadeneffekt, der psychologisch schädlich ist. Zuerst bist du wütend. Bald bist du wütend, weil du wütend bist und zugelassen hast, dass diese Wut deinen Tag beherrscht. Und von da an wird es nur noch schlimmer. Du wirst eine beschissene Zeit haben, und schlimmer noch – du verpasst die Chance zu lernen und deine Gegner zu verstehen. Eine bessere Aktivist:in zu werden.

Aber das Schlimmste an der Beleidigung ist, dass jemand, der leicht beleidigt ist, leicht manipuliert werden kann. Denn andere können dich dazu bringen, auf eine Weise zu handeln, die du nicht geplant hattest.

Und niemand weiß das besser als das Establishment.

Die Geheimwaffe des Establishments

In den letzten Jahren ist das Establishment in großem Stil in das „Beleidigungs“-Spiel eingestiegen.

Die Fabian Society ist Großbritanniens ältester politischer Think-Tank. In einem ausführlichen Bericht vom letzten Jahr fand sie Beweise dafür, dass das Establishment Kulturkriege schürt, um seine Ziele zu erreichen. Es hat in den USA begonnen, ist in Großbritannien angekommen und wird bald überall zu finden sein.

Es funktioniert folgendermaßen. Das Establishment schreit über einen ethischen Verstoß, den Y (die Täter:in) offenbar begangen hat, oder verstärkt ihn, verpackt in der explosivsten Art und Weise, die möglich ist. Das Ziel ist es, X (die Beleidigte) dazu zu bringen, Y als engstirnig oder gefährlich anzusehen. Und eine öffentliche Beschämungskampagne wie oben beschrieben in Gang zu setzen.

Aus dem Bericht:

Ein anschauliches Beispiel [ist] die immer wiederkehrende Geschichte, dass der Film Grease “gecancelt” wird. Diese Geschichten beruhen auf einer Handvoll Tweets, von denen viele im Scherz gepostet wurden und in denen unstrittig ist, dass das Drehbuch von 1978 veraltet ist. Dies war die fadenscheinige Grundlage für eine Vielzahl von Medien, die diese „Kontroverse“ aufgriffen, darunter die Daily Mail, Good Morning Britain, die Metro und Pink News. Diese einzelnen Geschichten mögen zwar harmlos erscheinen, doch sie erwecken – unbeabsichtigt oder nicht – den Eindruck, dass Bewegungen wie #MeToo von Belanglosigkeiten über Musicals besessen sind, anstatt sich in Wirklichkeit gegen Gewalt gegen Frauen einzusetzen.

Der Versuch, dich dazu zu bringen, Anstoß zu nehmen, ist eine kluge Strategie des Establishments. Das muss man ihnen lassen. Es ermöglicht:

  • Politiker:innen ihre Feinde (die Beleidigten) zu karikieren und ihre Wählerbasis zusammenhalten
  • Kommentator:innen mehr Engagement zu erhalten, indem sie von der Kontroverse profitieren
  • Medien und Social-Media-Plattformen durch die Klicks und die Berichterstattung über die Empörung finanzielle Gewinne zu erzielen.

Noch schlimmer ist jedoch, dass das Establishment die Aktivist:innen durch die strategische Erzeugung von Beleidigungen spaltet und zahnlos macht. Sie halten die Aktivist:innen auf die aktuelle Empörung fixiert, unfähig, ihre Projekte durchzuziehen.

 

Anstatt sich dem Establishment dort entgegenzustellen, wo es einen Unterschied machen könnte, wird die wertvolle Energie der Aktivist:innen auf Randthemen und symbolische Ziele umgeleitet. Weg mit Kampagnen gegen Einkommensungleichheit, globale Erwärmung, Armut oder institutionelle Transparenz. Hin zu Kämpfen darüber, ob Footballer:innen auf die Knie gehen und welche kontroversen Statuen stehen bleiben sollten. Während sich die Aktivist:innen gegenseitig in Stücke reißen, um kulturelle Erfolge zu erzielen, bleibt der Status quo erhalten.

Und oft ist der „Angreifer“, den das Establishment diesen fabrizierten Kontroversen voran stellt, eine Partei, die das selbe Establishment gern zu Fall bringen würde. Ob es nun Wikileaks, unabhängige Podcaster:innen oder heterodoxe Ärzt:innen sind.

Das Ergebnis dieser Strategie ist, dass Aktivist:innen, die sich normalerweise dem Establishment widersetzen würden, am Ende die Arbeit des Establishments für sie erledigen. Dabei werden sie als unnahbar gegenüber den Anliegen der einfachen Leute diffamiert. Welch böses Genie!

Noch einmal: Wer leicht beleidigt ist, ist leicht zu manipulieren.

Wie können wir verhindern, dass wir ausgetrickst werden? Und wie können wir es ihnen heimzahlen?


Deine Verteidigung und Vergeltung

Nicht beleidigt zu sein ist eine Superkraft. Wenn du es kultivierst, kannst du verhindern, dass deine Gegner:innen dich an der Nase herumführen.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Jeder Mensch ist anders, und ob du leicht beleidigt bist, hängt von deiner Vorgeschichte, deinen verborgenen Schwächen und deinem Selbstwertgefühl ab.

Haidt empfiehlt kognitive Verhaltenstherapie, um sich davor zu schützen, sich beleidigt zu fühlen. Aber was bei mir funktioniert, ist Achtsamkeitsmeditation. Warum:

Gedanken sind der Treibstoff für Emotionen, und Meditation schafft Raum zwischen dir und diesen Gedanken. […] Sobald du die Gedanken identifizierst, die die Emotion hervorrufen, verlieren beide ihren Einfluss auf dich. So kannst du deine Aufmerksamkeit wieder auf dein Endziel lenken.

Der Aufbau einer Meditationspraxis wird dir helfen, zu erkennen, wann das Gefühl, sich beleidigt zu fühlen, in dir aufsteigt. Und es wird dir den Raum geben, dich zurückzuziehen und neu zu bewerten. Beginne mit der App „Waking Up“ von Sam Harris und 10 Minuten jeden Morgen.

Wenn du ein Aktivist:innenteam aufbaust, solltest du außerdem auf Menschen achten, die schnell beleidigt sind. Glaube mir, du willst sie nicht dabei haben. Du brauchst Aktivist:innen, die Konflikte leicht hinter sich lassen können und das Ziel im Auge behalten.

Vergiss nicht, dass du dich in einem asymmetrischen Kampf gegen die Macht befindest. Man kann und sollte die Mittel des Gegners gegen ihn einsetzen.

Was auch immer du in der Kampagnenarbeit anstrebst, versuche, das Establishment zu verärgern. Mache es persönlich: Nimm die verantwortliche Person ins Visier, nicht eine Institution oder ein System. Bringe sie zur Weißglut und schreie sie an.

Stelle ihre tief verwurzelten Überzeugungen in Frage. Zwinge sie, sich zu sträuben und taktische Fehler zu machen. Schlage sie in ihrem eigenen Spiel.

***

Anmerkungen

  1. Nach der psychologischen Definition handelt es sich technisch gesehen nicht um eine Beleidigung. Es ist eher so, dass X das Gefühl hat, dass Y engstirnige Ansichten hat, und sich darüber ärgert oder ekelt. Aber für unsere Zwecke hier wollen wir es als Beleidigung bezeichnen.

Der Autor ist Berater des Koordinationskollektivs von DiEM25. Eine Version dieses Artikels erschien zuerst im Aktivist:innen-Newsletter Subvrt

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