Sollten wir etwas gegen Lügen im Internet unternehmen?

Fehlinformation, Desinformation, Propaganda, Betrug. Was auch immer sie bezwecken, sie laufen auf dasselbe hinaus: Lügen. Und da heute jede:r publizieren kann und ein Gerät in der Tasche hat, hat das Internet ihre Verbreitung beschleunigt – auf Warp-Geschwindigkeit.

COVID wird nicht durch 5G verbreitet. Unser Planet ist keine unendliche Scheibe. Es gab keinen Pädophilenring, der aus dem Keller einer Washingtoner Pizzeria heraus agierte.

Und auch wenn wir über einige dieser Verschwörungstheorien schmunzeln, können Online-Lügen auch schaden, wie das Massaker an den Rohingya in Myanmar auf tragische Weise gezeigt hat.

Die Reaktion des Establishments auf Menschen, die diese Ansichten teilen, besteht in der Regel darin, sie an den Pranger zu stellen, zu beschämen und wenn nötig, sie ganz zu canceln.

Und das funktioniert auch, nicht wahr?  So wird der Wilde Westen des Internets ein bisschen weniger wild.

Äh, nein

Es gibt mehrere Probleme mit diesem Bild.

Das Establishment ist selbst der schlimmste Übeltäter.

Die gefährlichsten Lügen kommen nicht von Verschwörungstheoretikern, sondern vom Establishment selbst. Es gab keine Massenvernichtungswaffen im Irak.

Der Afghanistankrieg war ein Desaster, auch wenn die Invasoren etwas anderes behaupteten.

Die Wirtschaftskrise in Griechenland entstand nicht, weil die Menschen dort faul und korrupt waren. Und die russische Regierung hat nicht mit Donald Trump konspiriert, um die US-Wahl 2016 für ihn zu gewinnen (eine weitgehend unwidersprochene Geschichte, die den Weg für einen weiteren Krieg in der Ukraine bahnt, während ich schreibe).

Oder nehmen wir die aktuelle Pandemie. Die Gesundheitsbehörden erklärten im März 2020, dass Masken unnötig seien – dann machten sie einen Rückzieher und gaben zu, dass sie die Masken zunächst für die Krankenhäuser zurückhalten wollten. Sie haben ihre Positionen zu den Themen Herdenimmunität und Nebenwirkungen wie Herzmuskelentzündung sowie zu Schulöffnungen und Schließungen geändert.

Und dann Joe Biden im Juli letzten Jahres, mit einer Äußerung dazu, ob Impfstoffe die Verbreitung von COVID verhindern:

Wenn Sie diese Impfungen haben, bekommen Sie kein COVID.“ Eine „Tatsache“, die schnell widerlegt wurde.

Vielleicht finden Sie, dass eine Regierung die Menschen im Falle einer Pandemie dazu drängen sollte, sich impfen zu lassen, zur Not unter Zuhilfenahme regelrechter Lügen.

(Ich nicht – ich denke, sie sollten uns immer auf Augenhöhe begegnen.) Und ja, Wissenschaft ist ein Prozess und Experten irren sich.

Aber stellen Sie sich vor, wie viele schädliche Verschwörungstheorien durch dieses Hin und Her Auftrieb erhalten. Jedes Mal, wenn Behörden beim Flunkern erwischt werden, wird das Vertrauen weiter erschüttert. Die Menschen stellen die sehr vernünftige Frage: Wenn sie mich in diesem Punkt angelogen haben, wann dann noch?

Die Anschuldigung, Lügen zu verbreiten, ist auch eine Waffe.

Es gibt starke Anreize für Menschen, Ansichten als „schädlich“ zu bezeichnen und zu fordern, sie zum Schweigen zu bringen, wenn diese Ansichten nur ihren eigenen widersprechen. Und da wir heute alle Verleger sind, kann jeder diese Waffe einsetzen. Diese Überlegungen müssen wir immer mit einbeziehen, wenn wir die Glaubwürdigkeit einer Quelle beurteilen.

Diese Woche habe ich zwei Beispiele gesehen, die dies verdeutlichen. Eine von den etablierten Medien geführte Kampagne gegen die Substack-Plattform (die viele heterodoxe Journalisten angezogen hat) und eine gegen den weltweit beliebtesten Podcaster Joe Rogan sind beide in den Schlagzeilen. Substack und Rogan sind wichtige Stimmen, die die Orthodoxie des Establishments herausfordern. Und in beiden Fällen behaupten diese Kampagnen, dass Substacker und Rogan „Desinformation“ verbreiten, indem sie konträre Ansichten auf COVID teilen.

Warum sollten die alten Medien dies tun? Wir könnten natürlich davon ausgehen, dass sie es in gutem Glauben tun. Und wir können nicht in die Köpfe der Menschen blicken.

Jedoch ist es wichtig, den Kontext zu berücksichtigen. Substack hat vielen Journalist:innen eine Heimat, ein Publikum und ein Einkommen verschafft. Vor allem für jene, die sich aus den herkömmlichen Medien geflüchtet haben, mit der Behauptung, ihre Ansichten würden unterdrückt oder zensiert. Und im Fall von Rogan sagt diese Grafik alles aus:

Die Geschäftsmodelle der traditionellen Medien sind durch Plattformen wie Facebook geschädigt worden und genießen kein Vertrauen mehr in der Öffentlichkeit. Sie befinden sich in einem Kampf um ihr Leben. Sie müssen relevant bleiben, und sie wollen ihren Gatekeeper-Status zurück. Es ist plausibel, dass sie, anstatt zu versuchen, innovativ zu sein, lieber die Konkurrenz ausschalten, indem sie ihr vorwerfen, online Schaden anzurichten.

Lügen sind nicht immer so gefährlich wie behauptet

Der wahrgenommene Schaden, der durch Lügen von „schlechten Akteur:innen“ verursacht wird, ist oft übertrieben.

Die Vorstellung, dass eine bestimmte Lüge Schaden anrichten kann, scheint auf einer Annahme zu beruhen: dass die Menschen im Allgemeinen nicht zwischen Online-Fakten und Fiktion unterscheiden können und dazu verleitet werden, Unwahrheiten zu glauben. Meiner unwissenschaftlichen Meinung nach ist das Quatsch.

OK, in jeder Debatte gibt es Menschen an den Extremen mit pseudoreligiösen Überzeugungen, die Argumente ihrer Seite stets bevorzugen.  Diese werden sich nie überzeugen lassen.

Wir aber sollten uns auf das konzentrieren, was wir beeinflussen können, und das ist die große Mitte – diejenigen, die in viele Richtungen überzeugt werden könnten. Es stimmt, dass die Menschen sich heute in einem verschmutzten Informationsumfeld bewegen, mit fehlerhafter geistiger Maschinerie und Vorurteilen. Es ist schließlich der Wilde Westen.

Aber dennoch glaube ich, dass die Menschen keine Idioten sind und sich selbst eine Meinung bilden können. Dutzende von Millionen, und wahrscheinlich noch viel mehr, haben die Massenvernichtungswaffen-„Beweise“ des Establishments durchschaut (auch wenn sie trotzdem zu Krieg und Besatzung führten). Und es fällt mir schwer, zu akzeptieren, dass Millionen von Menschen medizinische Ratschläge von einem der Gäste von Joe Rogan annehmen – vor allem, wenn er in der gleichen Sendung mit vielen Pro-Establishment-Stimmen debattiert hat.

Aber was ist mit den Fällen, in denen eine Fehlinformation oder Hassrede Schaden anrichten kann? Sicher, es gibt Fälle, in denen die Anstiftung zum Schaden so offensichtlich ist, dass es kaum Raum für Interpretationen gibt. Und in einigen dieser Fälle könnte es gerechtfertigt sein, diese Ansichten zu zensieren. Aber diese Entscheidung sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden.

Zensur ist ein stumpfes und unwirksames Instrument

Das Behelfsinstrument – die Zensur – erreicht selten ihr erklärtes Ziel. Weil das Verbot von Inhalten diese attraktiver macht. Aber auch, weil die Architektur des Internets ein Verbot von Ansichten in der Praxis verunmöglicht.

Und Zensoren werden immer hinterherlaufen. Mit der Weiterentwicklung von Technologien wie Deepfakes wird die Erschaffung von Lügen, die echt aussehen, immer einfacher. Warten Sie nur auf die nächste große Wahl, um das zu sehen.

Noch besorgniserregender ist jedoch folgende Frage: Wer entscheidet, welche Ansichten verboten werden sollen? Die Antwort lautet in der Regel: einige nicht gewählte Milliardäre aus dem Silicon Valley. Es ist legal, wenn der CEO von Twitter Politiker auf Twitter sperrt. Aber es ist weder ethisch richtig noch politisch klug.

Zensur erschafft Ungeheuer

Die Zensur des Establishments bringt unseren Diskurs gründlich durcheinander. Der Mensch entwickelt sich durch die freie Äußerung und den Zusammenprall von Ideen – insbesondere mit solchen, die uns nicht gefallen. Der wissenschaftliche Prozess ist davon abhängig.

Zensur bedroht den Markt der Ideen und unterdrückt die Debatten, die geführt werden müssen – insbesondere in einer Pandemie. Zensur engt die Bandbreite dessen ein, was geäußert werden darf, und zwingt dazu, sich selbst zu zensieren, aus Angst, zum Dissidenten zu werden. Sie verschärft die Spaltung und schafft die Voraussetzungen dafür, dass Demagogen die Macht an sich reißen können.

So sieht das Modell des strengen Vaters in der Praxis aus. Das Establishment fürchtet den Kontrollverlust und verlangt Konformität um jeden Preis. Während es wieder und wieder und wieder seine eigenen Lügen verbreitet, geht das Ganze nach hinten los.

Was zum Teufel sollen wir also tun?

Aktivist:innen sind kompetente Medienkonsument:innen und wir stecken mitten in diesem Chaos. Hier sind einige Vorschläge, wie man das durchstehen kann:

Versuchen Sie das, ganze Bild zu sehen.

Ein Großteil des Internets ist zu einem Feuersturm geworden, aus konkurrierenden Agendas, Stammeskriegen, Wut und Spaltung schürenden Plattformen und Leuten, die uns Scheiße verkaufen wollen. Seien Sie stets auf der Hut, wenn Sie sich in den Wilden Westen einloggen; Ihre Hand immer nahe am Halfter.

Bleiben Sie skeptisch, bleiben Sie geistig gesund.

Ganz gleich, ob Sie den Guardian oder eine obskure Facebook-Gruppe lesen, Sie sollten Ihre Lektüre durch Argumente der anderen Seite ausgleichen. Folgen Sie Leuten, mit denen Sie nicht übereinstimmen. Betrachten Sie Expert:innenmeinungen als Input, nicht als Antwort. Seien Sie offen und neugierig, wenn Sie Ihre Meinung ändern wollen.

Und umgehen Sie die Algorithmen von Twitter, indem Sie Apps wie Tweetbot verwenden. Schmeißen Sie andere Plattformen raus. (Vor allem Facebook ist sehr schwer zu überlisten.)

Spielen Sie besser, anstatt sich beim Schiedsrichter auszuheulen.

Sehen Sie jemanden Fehlinformationen oder Hassreden verbreiten? Wehren Sie sich gegen die Ansichten, nicht gegen die Person. Versuchen Sie nicht, eine Person zum Schweigen zu bringen, sondern begegnen Sie ihren Ideen mit einer eigenen Geschichte. Das ist die Essenz von Überzeugungsarbeit. Egal, ob Sie in einem Forum debattieren oder gegen eine koordinierte Medienkampagne des Establishments ankämpfen, wie wir es beim Omikron-Projekt getan haben.

(Es sei denn natürlich, Sie haben es mit einer direkten Aufforderung zur Gewalt zu tun. Aber legen Sie die Messlatte dafür hoch, denn sie ist heutzutage sehr niedrig.)

Fachen Sie den Feuersturm nicht an.

Kommentieren Sie, wenn Sie einen Lösungsvorschlag haben oder denken, dass Sie einen Beitrag zur Debatte leisten können. Kommentieren Sie einen Artikel nicht aufgrund der Überschrift oder unmittelbar nach dem Lesen. Lassen Sie sich Zeit, verdauen Sie den Artikel und kommentieren Sie ihn – wenn überhaupt – wenn Sie etwas haben, das einen Mehrwert für die Debatte darstellen kann.


Der Autor ist Berater des Koordinationskollektivs von DiEM25. Eine Version dieses Artikels erschien zuerst im Aktivisten-Newsletter Subvrt.

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